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Thorsten Hellwig
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Vor ungefähr zwei Jahren, drei Monaten und vier Tagen passierte in einem kleinen Wald nahe am Fluss, der zu Recht mittelgroßer Fluss genannt wurde, folgende wahre Geschichte. Die Sonne schien, aber das hatten die Wetterfrösche auch vorhergesagt:

Ein Frosch war mit seinem roten kleinen Rucksack auf dem Weg von A nach B und zwar durch den Blumenwald. Der Blumenwald hieß und heißt heute bestimmt immer noch Blumenwald, weil dort die Blumen hoch wie Eichen oder Buchen wuchsen, die Bäume aber klein und zierlich waren wie Gänseblümchen oder Maiglöckchen. Der Frosch, ein schöner mittleren Alters, sprang gemächlich und in ruhigen Sprüngen in Richtung B, bis er inmitten kleinster Eichen und Buchen den Stängel einer wunderschönen Sonnenblume sah. So schaute er aus der Froschperspektive den Stängel, der den Umfang eines Stammes aufwies, empor und empor, weil er gar nicht enden wollte, der Stängelstamm. Dazwischen sprossen zur Verzierung ein paar grüne Blätter. Nicht mehr, nur Stamm und grüne Blätter. Irgendwann war dann aber doch Schluss. Der Stängel mündete in einen riesigen Blumenkelch. Die Sonne durchdrang die Blüte und ließ selbst die Unterseite erstrahlen. Wie verzaubert stand er da, der Frosch. „Wie schön muss es erst oben sein“, dachte er und vergaß für einen Moment, dass er sich ja auf dem Weg von A nach B befand. „Meinen Heimatteich habe ich bereits durchquert, für wehrhaften Laich gesorgt. Jetzt fehlt mir zu meinem Glück nur noch, einen Sonnenblumenbaum bestiegen zu haben“, fasste der Frosch sein Lebenswerk für sich zusammen und verlor nicht viel Zeit, sondern sprang mit starkem, entschlossenem Sprung den Stängelstamm hinauf, das dritte Lebensziel zu verwirklichen. Seine strammen, wohl ausgearbeiteten Schenkel machten es ihm leicht, schnell und sicher der Sonne näher zu kommen. Endlich hatte er den Blütenkelch erreicht. Nun begann der schwierigste Teil seines Aufstiegs. Der Stängelstamm lag unter ihm. Die Bäumchen am Boden konnte der Frosch in seiner Kurzsichtigkeit nur noch verschwommen sehen. Mit einem mächtigen Satz katapultierte er seinen Körper an den Rand der Blüte. Seine Froschärmchen packten die Blütenblätter und hielten sie fest wie einen wertvollen Schatz. Aber sie hielten ja auch einen wertvollen Schatz fest, nämlich sein Leben. Da kann man schon mal zupacken. So hing er dort wie ein Apfel im September. Wäre ein Storch vorbeigekommen, wäre es ein Leichtes für ihn gewesen, den Frosch zu pflücken, eben wie eine reife Frucht. Aber kein Storch flog vorbei, denn es war ein Dienstag, und dienstags ist Ruhetag bei den Störchen. Langsam zog sich der Frosch empor. Sein Bizeps schimmerte unter seiner grünlichen Froschhaut. Jetzt konnte er über den Blütenrand schauen. Er zog sein rechtes Bein über den Rand und…. Und hatte es geschafft. Er schnaufte ein wenig, vergaß aber nicht, seinen Bizeps zu küssen.

Der Himmel über ihm leuchtete Blau, die Sonne stand hoch. Die Aussicht von seinem Hochsitz war grandios. Weil der Sonneblumenbaum der höchste der Gegend war, hätte der Frosch bis Amerika schauen können, wenn er nicht kurzsichtig gewesen wäre. Die Weite zu erahnen, reichte ihm indes vollkommen aus. Er hüpfte einmal rund um die Blüte, dann in deren Mitte. Dort entnahm er seinem roten Rucksack seine Trompete und spielte die hübsche Weise „Ich würde gern ein Vöglein sein.“ Wenn schon er nicht fliegen konnte, schwebten zumindest seine Töne nach oben direkt ins tiefe Blau, dann in alle Himmelsrichtungen, vielleicht sogar bis Amerika.

Vielleicht machten ihn seine eigenen himmlischen Töne übermütig, vielleicht vermengte er wegen des Liedes Wirklichkeit und innersten Wunsch, vielleicht brannte aber auch einfach nur die hoch stehende Sonne zu sehr auf sein grünes Froschköpflein. Jedenfalls sprang der Frosch trompetend an den Rand der Blüte, schaute nach unten und sprang mit den Worten „Ich bin ein Star, ich bin ein Star“ in die Tiefe. Die Trompete taugte als Fallschirm allerdings nur mäßig. Der Frosch versuchte seine Geschwindigkeit, die beträchtlich geworden war, dadurch zu mindern, dass er seine Backen aufblähte, als ob er die Welt darin verstecken wollte. Doch es half alles nichts: Weder der Glaube, ein Star zu sein, noch der Versuch, seine Backen als tauglichen Fallschirm zu nutzen. „Hilf mir Herrgott. Ich will doch nur ein Star sein“, schrie der fallende Frosch, aber unter uns, er quakte lediglich laut. Nur der Herrgott, der gerade in einer anderen Angelegenheit beschäftigt war, wusste im ersten Moment gar nicht, was der Frosch meinte – Vogelstar oder Trompetenstar. Dann war es zu spät. Mit einem mittellauten Platsch und einem kurzen Knacken landete die Grünhaut auf dem harten Boden der Tatsachen. „Aua“, sagte er mit schmerzverzerrtem Froschgesicht und konnte das rechte hintere Bein nicht mehr bewegen. Es hing an ihm, als ob es nicht mehr recht dazu gehörte. Wie ein abgeknickter Blumenstängel, von dem man weiß, dass er zu der Blume dazugehört, aber so richtig eben nicht mehr.
Frage: Wie sollte er jetzt nach B kommen?
Er lehnte seinen Körper an die Sonnenblume und wartete auf ein Wunder oder einen Krankenwagen. Erst einmal tat sich nichts. Ab und zu trompete er „Der einsame Hirte“, fand die Melodie aber so traurig, dass er weinen musste.
„Guten Tag“, hörte er plötzlich eine Stimme neben sich sagen. Er schaute nach links, von wo die Stimme kam und sah zwei unbedeckte menschliche Knie. Sein Blick wanderte nach oben. Es folgten Oberschenkel in einer kurzen Hose, ein Rumpf in einem weißen T-Shirt, ein Hals plus Kopf mit Haaren. Ein fertiger Mensch sprach zu ihm. „Kann ich ihnen mit einem Taschentuch aushelfen?“, fragte die Stimme höflich.
Der Frosch schwieg.
„Ich sehe, sie sind verletzt. Vielleicht kann ich sie auch behandeln. Ich bin Arzt, Tierarzt, spezialisiert auf Kleintiere, so wie sie eines sind.“
„Ich glaube, mein rechtes Bein, das hintere rechts, ist gebrochen. Es brach, als ich hernieder ging, also beim Aufprall“, sagte der Frosch etwas umständlich.
„Das scheint mir auch so. Wo wollen sie denn jetzt hin?“
„Nach B.“
„Dachte ich mir. Sie kommen bestimmt aus A“
„Richtig.“ Der Frosch nickte mit Nachdruck.
„Ich würde ihnen gerne das Bein schienen und sie dann nach B mitnehmen.“
Dieses großzügige Angebot überraschte den Frosch. „Das würden sie tun? Einfach so?“, fragte er ungläubig.
„Es wäre mir eine Freude.“
„Ich bin aber keine verzauberte Prinzessin, wenn sie das glauben, auch wenn ich vielleicht so aussehe. Ich bin nur ein stinknormaler Trompetenfrosch, der fliegen wollte.“
Der Mensch runzelte die Stirn. „Ich will gar keine Prinzessin. Machen nur Scherereien.“
„Ich tauge auch nicht für eine Froschschenkelsuppe. Ich lehne alles Französische ab.“
Der Mensch runzelte wieder die Stirn. „Ich auch. Nein, ich will weder ihr Gebein essen. Weder möchte ich, dass sie als Wetterfrosch für mich arbeiten. Ich habe keine Hintergedanken.“
Der Frosch wollte es nicht glauben. So viel Menschlichkeit in zwei Beinen, zwei Armen, einem Kopf und einem Herzen. Das hätte für eine ganze Armee gereicht. Aber was blieb ihm übrig. „Machen sie mit mir, was sie für richtig halten. Ich gehöre ihnen“, sagte er eine Spur zu feierlich.
Der Mensch, der sich Tierarzt nannte, band fachkundig und flink wie eine Grille beim Geigenspiel dem Frosch einen Verband um dessen rechtes Hinterbein. Dann setzte er ihn auf die linke Schulter und ging los. „Haben sie mitunter Probleme mit Durchfall?“
„Nein, nicht dass ich wüsste. Blähungen ab und an, aber mehr…?“ Der Frosch schüttelte den Kopf.
„Nur wegen des T-Shirts. Blähungen sind in Ordnung. Damit hat jeder zu kämpfen.“
Der Frosch wollte etwas Nützliches zu ihrer Wanderung beisteuern und begann, in seine Trompete zu blasen.
Das gefiel dem Mensch. „Sehr schön.“
So marschierten sie durch den Wald. Der Mensch blieb ab und an stehen und pflückte einen Strauß Eichen, Buchen und Birken. „Für das Wohnzimmer“, sagte er fast entschuldigend. Die Stunden verstrichen. Sie kamen zügig voran.
„Gleich sind wir in B“, sagte der Mensch nach längerem Schweigen.
Der Wald öffnete sich zu einer hellen Lichtung, in deren Mitte ein schönes Haus mit einem Strohdach stand. „Da ist es. Was wollten sie eigentlich in B?“
„Nach dem Rechten sehen“, sagte der Frosch, den die Frage etwas unvorbereitet traf.
„Schauen sie sich in Ruhe um. Es dürfte alles in Ordnung sein. Im Garten finden sie einen Teich mit einem kleinen Liegestuhl. Wenn sie wollen, können sie es sich dort bequem machen. Ich mache derweil ein Gurkensandwich. Für sie auch?“
„Das wäre schön.“

Der Frosch hinkte zum Teich, setzte sich in den Liegestuhl, sah den Libellen beim Fliegen zu und beneidete sie für eine Sekunde. Aber nicht länger, schon gar nicht, als der Mensch die Gurkensandwichs gebracht hatte. Sie kauten und schwiegen. Als die Teller leer vor ihnen standen, ergriff der Mensch das Wort: „Ich würde mich freuen, wenn sie sich entscheiden könnten, bei mir zu bleiben. Ich möchte allerdings offen und ehrlich sein.“ Er schwieg. Der Frosch wartete auf eine Beichte. Vielleicht doch Froschschenkelsuppe? „Ich habe vorhin die Unwahrheit gesagt, als ich sagte, ihnen nur helfen zu wollen. Tatsächlich suche ich einen Freund.“
Der Mensch hatte also gelogen. Er wollte nicht nur helfen, er wollte einen Freund: zum Plaudern, zum Musizieren, zum gemeinsamen Essen. „Ich bleibe trotzdem“, sagte der Frosch.
„Dann können wir uns ja jetzt duzen: Ich heiße Mensch“, sagte der Mensch.
„Ich heiße Frosch“, sagte der Frosch und freute sich, in B angekommen zu sein.

So lebten sie glücklich beieinander, bis eines Tages ein Storch des Weges flog und den Frosch, der gerade in seinem Liegestuhl lag, an seinem rechten Bein schnappte und davonflog. Es war ein Dienstag, aber dem Storch war es egal.