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Thorsten Hellwig
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Lina

Lina

Lina

Szenen aus dem Live-Film von
Anja Mauruschat zur Lesung im
Literaturhaus Hamburg (2004)

Lina ist acht Jahre. Das ist nur ein bisschen weniger als zehn, aber viel mehr als sechs Jahre. Lina darf heute Nachmittag alleine zuhause bleiben.
Doch stopp! Eigentlich ist sie nicht ganz allein. Denn Tanja sitzt neben ihr auf einem Stuhl im Wohnzimmer. Sie und Lina gehen zusammen in eine Klasse, und ihre Mütter sind miteinander befreundet. Aber Lina mag Tanja nicht sonderlich, weil Tanja immer mächtig angibt. Außerdem sagt sie, dass Peter sie schon zweimal auf den Mund geküsst hat. Und das ist unfair, weil Peter Linas bester Freund ist und Lina auch gerne mal einen Kuss von Peter hätte. Vielleicht stimmt das alles auch gar nicht mit dem Kuss von Peter, und Tanja will sich nur wichtig machen.
Jedenfalls haben sich ihre Mütter heute getroffen, um eine Tour mit dem Fahrrad zu machen. Deshalb ist Tanja bei Lina. Auf dem Tisch stehen Kuchen und Saft, damit die beiden nicht verhungern.
„Und ihr spielt schön artig, wenn wir unterwegs sind, ja?“, haben ihre Mütter gefragt.
„Ja“, haben Tanja und Lina geantwortet, obwohl Lina genau weiß, dass das mit Tanja gar nicht geht.
Kaum ist die Tür ins Schloss gefallen, fängt Tanja an zu prahlen.
„Das Fahrrad meiner Mutter ist rot wie die roteste Kirsche, die du jemals in deinem Leben gesehen hast. Außerdem hat sie links am Lenker eine total riesige Klingel. Da springt jeder zur Seite, wenn meine Mutter kommt. Neulich hat sich ein Mann so erschreckt, dass er sich in die Hose gemacht hat. Das war lustig.“
„Das glaube ich nicht!“, antwortet Lina.
„Kannst du aber. Es hat sogar getropft.“
Bei Linas Mutter springt keiner, wenn sie mit ihrem silbernen Fahrrad daherkommt, weil die Klingel an ihrem Fahrrad ziemlich mickrig ist. Und in die Hose hat sich erst recht noch keiner gemacht, wenn sie angeradelt kam. Lina muss zugeben, dass sich die Geschichte von Tanja wirklich lustig anhört. Wenn sie denn stimmt. Lina wachsen vor lauter Nachdenken tiefe Falten auf der Stirn.
„Meine Mutter bekommt aber bald ein neues Fahrrad mit allen Schikanen. Das ist himmelblau und hat eine Klingel, die eine Melodie macht.“
So, das hat gesessen.
„Du schwindelst ja!“, sagt Tanja.
Lina bekommt einen roten Kopf, weil sie wirklich geschwindelt hat. Und wer schwindelt, bekommt entweder einen roten Kopf oder, was weitaus schlimmer ist, die Zähne fangen an zu wackeln.
Aber jetzt gibt es kein Zurück mehr.
„Habe ich gar nicht, genauso wenig wie du, du, du dummes Schaf!“
Das hat Peter mal zu Tanja auf dem Schulhof gesagt, als Tanja erzählte hatte, ihr Vater habe schon einmal einen Tiger gebändigt und sei dann auf ihm geritten. Deshalb erscheint es Lina äußerst passend.
„So was sagt man nicht! Das musst du sofort zurücknehmen, sonst bleibt das im Raum stehen!“, sagt Tanja beleidigt.
Aber was heißt das eigentlich genau: im Raum stehen bleiben? Tanja weiß es selbst nicht. Ihr Vater sagt das dann und wann, wenn sie frech zu ihm ist. Und es hört sich so an, als ob man es sagen könnte, wenn ein anderes Mädchen zu einem „Du, dummes Schaf“ sagt.
„Ich nehme nichts zurück, weil du nämlich ein dummes Schaf bist“, bekräftigt Lina. Lina funkelt wild mit den Augen und wenn wir nicht alle genau wüssten, dass Lina nur auf Tanja wütend ist, könnte man meinen, der Teufel würde sie reiten. Und um noch einmal deutlich zu machen, dass sie auf gar keinen Fall, auch nur einen Buchstaben zurücknehmen möchte, wiederholt sie mit Nachdruck: „Du bist ein dummes Schaf.“
Und plötzlich steht ein kleines, dummes Schaf im Raum und määht. Es ist ziemlich klein und sagt so leise „määh“, dass die beiden nichts hören. Das kleine, dumme Schaf sieht so aus, wie kleine Schafe aussehen, die an der Nordsee auf dem Deich wohnen, aber es ist noch ein Stückchen kleiner. So, wie es da steht mit seinem weißen, dichten Fell und der schwarzen Schnauze, könnte es so groß sein wie ein Stückchen Torte, sagen wir ein Stück Torte mit Sahne und einer Kirsche oben drauf.
Tanja findet es gar nicht lustig, dass Lina das dumme Schaf nicht zurücknehmen möchte.
„Du musst es aber zurücknehmen!“
„Nööh, mache ich nicht, weil ich nur das mache, was ich will!“
So geht es hin und her. Das kleine Schaf kommt sich vor wie auf dem Tennisplatz. Es guckt zu Tanja, dann zu Lina und wieder zurück. Und weil es wirklich ein bisschen dumm ist, das kleine Schaf, versteht es nur Bahnhof. Und langsam bekommt es auch ein wenig Angst und macht vierzehn kleine Köttel auf den neuen Teppich.
„Ha, wenn ich ein dummes Schaf bin, dann bist Du – Tanja überlegt einen Moment – eine blöde Kuh.“
„Das musst Du jetzt aber zurücknehmen, sonst steht das nämlich auch im Raum!“
„Mach ich aber nicht. Solange du nicht dein Schaf zurücknimmst.“
Aber das will Lina ja gerade nicht.
Es macht „Plopp“, und die blöde Kuh steht neben dem kleinen Schaf mitten im Raum und weiß gar nicht, was los ist. Sie ist eine schöne Kuh mit weiß schwarzem Fell und großen Augen. Außerdem hat sie um den Hals eine große Glocke. Die ist viel größer als die Klingel an dem Fahrrad von Tanjas Mutter. Das kleine dumme Schaf und die blöde Kuh schauen sich gegenseitig an.
„Muuh“ sagt die Kuh, weil das Kühe immer sagen.
Määh“, sagt das Schaf, weil es nichts anderes kann.
Sie verstehen sich nicht, obwohl beide das gleiche gefragt haben, nur in einer anderen Sprache. Sie wollen wissen, was hier eigentlich passiert, und wo sie sind. Außerdem möchten sie nach Hause. Ihnen gefällt es im Wohnzimmer nicht. Zuhause riecht es besser, außerdem ist der Stall besser aufgeräumt als das Wohnzimmer von Linas Eltern.
Tanja und Lina haben hochrote Köpfe und werfen mit Worten um sich, die man nicht sagen darf. Es scheint, als ob jedes Tier aus ihrem Mund direkt ins Wohnzimmer fällt. Die Anzahl der Tiere wächst und wächst. Zwei Affen kratzen sich am Kopf und wollen Bananen. Ein gackerndes Huhn, ein fieser Hund, zwei Esel, zehn Gänse, ein Schwein, das acht kleine Ferkel mitgebracht hat, ein Ochse und zwei gemeine Zecken stehen auf dem Teppich und schauen Fragezeichen in die Luft. So etwas ist noch keinem passiert. Jetzt kommt noch eine falsche Schlange dazu. Sie ist so falsch, dass sie aussieht wie ein Gartenschlauch mit einer gespaltenen Zunge.
Langsam wird es eng im Wohnzimmer. Und immer lauter.
„Du musst das jetzt zurücknehmen“, schreit Lina ein letztes Mal.
„Nein, du“
„Du“
Lina holt tief Luft. Für einen Moment schweigen die beiden. Jetzt erst merken sie, dass im Raum ein kleiner Zoo steht.
Der Hund bellt, die Gänse schnattern, der Ochse muht mit der Kuh, die Schweine grunzen, die Schlange zischelt. Nur die Zecken sagen nichts und sind einfach gemein. Sie beißen dem Ochsen ins Ohr und lachen fies dabei.
Tanja und Lina schauen sich an und verstehen die Welt nicht mehr. Beide haben den Mund weit offen stehen, als ob sie beim Zahnarzt wären. Sie schauen ein bisschen wie das dumme Schaf.
Plötzlich, noch ehe Lina und Tanja bis Zwei zählen können, springt der fiese Hund auf die andere Seite der Tierversammlung, dahin, wo das kleine, dumme Schaf steht. Er fletscht seine gelben Zähne und knurrt das Schaf an, das nun wie ein Zitteraal zittert. Seine Nackenhaare sträuben sich und sind aufgestellt, seine Augen glitzern böse. Aus seinem Maul läuft links und rechts, vor lauter Vorfreude auf den Leckerbissen, der klebrige Sabber heraus. Lina und Tanja würden dem kleinen Schaf, das nicht größer ist als ein Stück Torte, gerne helfen, aber sie sitzen immer noch wie versteinert da und vergessen sogar das Atmen. Waren ihre Köpfe eben noch rot wie Himbeergrütze, sind sie jetzt blau wie Blaubeerkompott. Das Schaf erkennt, dass es von den Beiden keine Hilfe erwarten kann. Aus dem Stand heraus springt es mit einem mächtigen Satz in Linas Arme, die zuerst verdutzt schaut und dann wieder zu atmen beginnt. Gierig reißt sie den Mund auf, um ihre Lungen mit Luft zu füllen. Ihr Gesicht wechselt zurück von Blau zu Rosa. Das von Tanja auch.
Tanja wird übermütig: „Du hast ja das Schaf auf den Arm genommen!“ Sie lacht. Lina ist aber gerade nicht zum Lachen zumute, weil sie Angst hat, das Schaf könnte noch ein paar Köttel verlieren.
„Stimmt gar nicht. Das Schaf ist gesprungen.“ Doch was ändert das schon? Der Hund knurrt immer noch. Er sieht mit seinen kalten Augen auf das zitternde Schäflein. „Wuff, wuff, wuff“, sagt er, was in diesem Moment so viel heißt wie „Ich kriege dich schon noch, du kleine Kreatur und dann fresse ich dich mit Haut und Haaren. Jetzt bist du vielleicht sicher, aber ich bekomme dich.“ Zum Glück ist das kleine Schaf zu dumm, das zu verstehen. Wer nur eine Sprache spricht, kann manchmal auch im Vorteil sein. Seit Lina wieder atmet, kommen auch die guten Ideen zurück. Geistesgegenwärtig nimmt sie die Kanne Saft und schüttet sie über den knurrenden, struppigen Hundekopf. Der erschreckt sich fürchterlich, weil er damit überhaupt nicht gerechnet hat. Außerdem mag er keine Flüssigkeiten außer Wasser zum Trinken. Sein Knurren verstummt. Er ist so überrascht, dass er noch nicht einmal den Saft aus dem Fell schüttelt. Er trottet wieder auf seine Seite, legt sich neben die falsche Schlange und leckt sie ab, als ob sie ein Eis am Stiel wäre. Die falsche Schlange zischelt, weil sie das nicht mag. Aber dem fiesen Hund ist das egal, weil er andere gerne ärgert.
Tanja jubelt. „Das war eine prima Idee. Die hätte von mir sein können.“ Lina verdreht die Augen.
Das Schaf leckt Linas Gesicht ab, aus Freude darüber, dass der Hund abgehauen ist. Und weil es ganz außer sich vor Freude ist, lässt das Schaf einen stattlichen Freudenköttel auf Linas rechtes Hosenbein fallen.
Der Lärmpegel steigt weiter an. Man versteht sein eigenes Wort nicht mehr. Kein Tier versteht das andere, aber alle sind sich in einem einig: sie wollen nach Hause.
Jetzt verstehen Tanja und Lina, warum man Beschimpfungen nicht im Raum stehen lassen darf.
Was soll man aber mit so vielen Tieren anfangen, die zudem alle nach Hause wollen?
„Ich nehme das Schaf zurück“, sagt Lina kleinlaut. Und schwuppdiwupp verschwindet das dumme Schaf aus ihren Armen dorthin, wo es hingehört, nämlich auf die Weide zu den anderen Schafen, dem Schäferhund und dem Schäfer. Der Schäfer freut sich, dass das kleine Schaf wieder zuhause ist. „Du bist aber groß geworden. Wo warst du denn so lange?“ Das Schaf versteht kein Wort, aber es fühlt die Freude des Schäfers. Da macht es einen Sprung in die Luft, als ob es beim Fußballspielen ein Tor geschossen hätte.
„Okay, du bist keine blöde Kuh und kein blöder Ochse.“ Nacheinander nehmen Tanja und Lina alles wieder zurück, was sie vorher gesagt haben. So schnell die Tiere gekommen sind, so schnell verschwinden sie wieder.
Nur mit dem Schwein und den kleinen Ferkeln gibt es ein paar Probleme. Tanja hat zwar das Schwein zurückgenommen, die acht Ferkel stehen aber plötzlich ganz alleine im Wohnzimmer und fangen bitterlich an zu grunzen, weil sie ihre Mutter vermissen.
Tanja entschuldigt sich schon mal im Voraus und sagt wieder: „Du bist ein Schwein!“
Dieses Mal geht die Beleidigung in Ordnung, weil sie einem guten Zweck dient. Das Schwein steht wieder mitten im Wohnzimmer. Die Ferkel freuen sich und rennen quiekend zu ihrer Mutter. Im selben Moment, in dem sich die Ferkel ganz eng an ihre Mutter schmiegen, nimmt Tanja das Schwein wieder zurück. Dieses Mal sind auch die Ferkel verschwunden.
Jetzt befinden sich nur noch Tanja und Lina im Wohnzimmer. Der Schrecken steht ihnen mit großen Buchstaben ins Gesicht geschrieben. Es riecht nach allen Tieren, die eben noch auf dem neuen Teppich gestanden haben.
Da wird sich Linas Mutter nicht freuen, wenn sie gleich nach Hause kommt, und es nach Schweinen und Schafen stinkt. Schnell springen die beiden zum Fenster und reißen es auf, damit der Wind den Gestank vertreibt.
Auf dem Fußboden liegen immer noch die vierzehn Angst- und der ein Freudenköttel. Mit einem Taschentuch sammeln sie Tanja und Lina auf und werfen sie in den Mülleimer.
„Tanja, weißt du, worüber ich froh bin?“, fragt Lina.
„Nein, warum denn?“
„Weil ich dich nicht einen Elefanten oder eine Giraffe genannt habe. Was meinst du, wenn auf einmal ein Elefant hier im Wohnzimmer gestanden hätte. Der hätte sich einmal gedreht und die Blumentöpfe wären vom Fensterbrett gesprungen.“
„Ich bin froh, dass ich dich nicht einen Blauwal genannt habe, das ist nämlich das größte Tier auf der Erde. Der hätte Wasser gebraucht, aber der passt in keine Badewanne.“
Tanja hat wie immer das letzte Wort.

Lina und Tanja spielen mit den neuen Spielzeugautos, die Lina zum Geburtstag bekommen hat. Als der Wind die letzten Geruchsfetzen hinweggeweht hat, kommen ihre Mütter wieder nach Hause.
„Na, habt ihr schön gespielt?“, fragen sie.
„Ja klar“, sagen beide wie aus einem Munde und bauen mit dem roten Mercedes und dem silbernen Audi einen dicken Unfall.