treppenangler.de
Thorsten Hellwig
treppenangler Logo
Startseite Kumpel&Kollegen Impressum Datenschutz Das Letzte
Geschichten
Gedichte
Galerien

 

Das Sprungbrett ragte weit über den Rand des Schwimmbeckens hinaus auf die Wasserfläche, die sich leicht kräuselte. Von hier aus hatte man einen guten Überblick über die Geschehnisse im Becken. Am Boden verliefen die fünf schwarz gekachelten Schwimmbahnen vom einen Ende bis zum anderen. Die Kacheln, die sie einfassten, leuchteten hellblau, als ob der Himmel hinab gefallen wäre. Um diese Uhrzeit zogen nur ein paar wenige alte Männer mit wunderlichen Badekappen ihre Bahnen. Die Luft lag warm und feucht in der Halle. Der Belag des Sprungbrettes biss in die Füße, damit man nicht ausrutschte.
Am Ende dieses Sprungbrettes – ein 1-Meter-Sprungbrett übrigens – stand ein kleiner, nackter Junge, der noch kleiner war als das Brett hoch. Er hatte erst vor kurzem gelernt zu stehen. Und vor noch kürzerem zu gehen.
Der Junge beschaute sich das Wasser. Es kam ihm vor wie ein Meer, viel größer als die Badewanne zuhause. Die Wärme der Hallenluft legte sich um seinen nackten kleinen Körper wie ein großes Handtuch. Wohl fühlte er sich, geborgen. Beim Anblick des Wassers hingegen beschlich ihn eine Gänsehaut. Und hätte er ein Fell oder zumindest Haare auf der Haut gehabt, sie hätten sich aufgestellt vor Unbehagen vor dem kühlen Nass.
Der einzige, der so aussah, als wolle er jeden Moment ins Wasser hüpfen, war der kleine Pimmel des Jungen. Er reckte sich stolz nach vorne wie der Bug eines Piratenschiffes: „Seht her, ich bin soweit, bereit für den Sprung in die kalten Untiefen dieses Meeres!“ Aber kleine Männer sind anders gesteuert. Sie springen nur dann, wenn es der Kopf möchte, aber der wollte nicht.
Der Junge hatte eine Idee.

Plötzlich hörte er ein Geräusch. Es hörte sich an, als ob jemand die Luft zerschlüge. Und tatsächlich. Eine Ente flog mit scharfem Flügelschwingen geradewegs auf den Jungen zu, der noch immer am Rand des Sprungbrettes stand.
„Vielleicht möchte sie mich ins Wasser schupsen“, dachte der Junge und schaute ängstlich nach dem heran fliegenden Vogel. Doch die Ente machte keine Anstalten, ihn von seinem Ausguck zu stürzen. So schön und grazil sie eben noch durch die Lüfte geschwebt war, so unbeholfen führte sie ihren Landeanflug aus. Die Augen waren zu kleinen Sehschlitzen gekniffen, was der Konzentration dienen sollte. Ob es half? Sie wollte auf dem Sprungbrett landen. Soviel stand fest. Der Junge schaute nach der Ente. Die Ente für einen kurzen Moment nach dem Jungen. Jetzt die Landung. „Achtung, ich komme!“, schrie sie aus, aber sie hatte sich verschätzt. Ihre Geschwindigkeit war noch zu hoch, um einem Turner gleich sicher zum Stehen zu kommen. Das wäre nicht gut gegangen. „Beiseite, ich komme doch nicht!“ Wie ein Flugzeug, dessen Pilot feststellt, dass die Landebahn zu kurz ist, wollte sie durchstarten. Ein, zwei, drei, vier schnelle Schritte. Die orange farbenen Füße, die normalerweise dem Watscheln dienen, gaben ihr Bestes. Der Junge war viel zu verdutzt, um sich irgendwie bewegen zu können. Trotzdem reichte der Ente das Wenige an Platz, um die Geschwindigkeit zu halten, den Jungen nicht ins Wasser zu schubsen und wieder abzuheben. Wer sie so durch das Schwimmbad fliegen sah, der wusste, dass Enten entweder für das Wasser oder die Luft taugen, aber auf festem Boden nicht viel zu suchen haben. Neuer Anflug nach einer kleinen Runde unter dem Schwimmbaddach. Dieses Mal mit geringerer Geschwindigkeit. Von vorne auf das Sprungbrett zu. Der Junge stand ganz links, damit die Ente seitlich von ihm landen konnte. Noch drei Meter, noch zwei. „Jetzt klappt es!“ Die Ente fuhr die Füße aus, die sie zuvor fest an ihren Körper gedrückt hatte. „Bestimmt!“ Jetzt setzten sie auf. Rechts, links, rechts, links. Der Junge drehte nur den Kopf und sah, wie der Vogel zum Stehen kam. Er hörte einen Entenschnabel-Seufzer. Die Ente drehte sich herum und wischte sich mit dem linken Flügel den Schweiß von der Entenstirn und plusterte ihr Gefieder auf. Dann watschelte sie nach vorne an den Rand des Sprungbretts, stellte sich neben den Jungen, schaute nach unten auf die schwarzen Bahnen, dann an den Hallenhorizont.
„Warm hier bei dir im Schwimmbad. Wie heißt du?“, fragte sie, ohne den Jungen anzuschauen.
„Ole. Und du?“
„Werner.“
„Ein schöner Name. Mein Ur-Opa hieß so.“
„Ja, ich bin zufrieden“, sagte die Ente zufrieden mit sich, der Welt und ihrem Namen.
„Und bist du mit deinem Namen zufrieden?“
Ole nickte. „Weißt du auch, warum?“
Die Ente Werner hatte keine Ahnung.
„Ole hat zwei Silben und die erste hat nur einen Buchstaben. Gibt es nicht so oft. Ich gehe davon aus, dass das den Namen Ole besonders macht. Außerdem heiße ich mit Nachnamen Bösch. Da brauchte ich zwei Silben. Damit es klingt.“
„Aha“, sagte die Ente nachdenklich und freute sich unter ihren ganzen Federn, dass ihr Name aus doppelt so vielen Buchstaben bestand wie Ole.
„Was machst du hier, Ole, so alleine auf dem Sprungbrett?“
„Ich will schwimmen lernen, aber mir ist das Wasser zu kalt. Deshalb dachte ich, einfacher wäre es vielleicht, mir nichts dir nichts hineinzuspringen. Dann würde mich die Kälte des Wassers so überraschen, dass ich sie gar nicht merken würde. Das war mein erster Plan. Aber es klappt nicht.“
„Und dein zweiter?“
„Ich könnte reinpinkeln, um das Wasser wärmer zu machen.“
„Aber das macht man nicht“, sagte da die Ente Werner.
„Warum nicht?“, fragte da der Junge Ole.
„Das ist unhergienisch. Verstehst du?“
Ole verstand nichts. Aber Werner würde es wohl wissen. Enten kannten sich bekanntlich mit Allerlei aus und Unhergienisches war bestimmt auch dabei.
„Aber alle kleinen Kinder pinkeln doch ins Schwimmbad“, stellte Ole halb fragend fest.
„Ja, aber nicht vom Sprungbrett.“
„Ist es nur unhergienisch, wenn man vom Sprungbrett pinkelt?“, fragte Ole.
„Ja!“ Werner war sich seiner Sache sicher.
„Warum?“
„Weil…“ Ole stotterte ein bisschen, „weil das nicht gut aussieht.“
„Hey, ihr da! Wehe es pinkelt einer von euch ins Schwimmbecken!“
Ole und Werner drehten sich herum. Am Ende des Sprungbretts stand der Bademeister. Er trug eine kurze Sporthose und ein mächtige Sonnenbrille unter seinen blonden Haaren.
„Das ist unhergienisch.“
Jetzt erst sah, dass es sich bei Werner um eine Ente handelte. „Hast du eine Bademütze?“, fragte er. „Ich will keine Federn im Wasser.“
Werner zog eine rote Enten-Gummibademütze unter seinem rechten Flügel hervor und hielt sie dem Bademeister entgegen: „Recht so?“
Der Bademeister nickte nur, drehte sich auf seinen Badelatschen um und ging zurück in seine Bademeisteraufsichtskabine.
„Siehst du? Ich hatte Recht. Es ist unhergienisch. Also Plan B funktioniert nicht vom Sprungbrett aus, sonst gibt es Ärger mit dem Bademeister. Was nun?“
Ole zuckte mit den Schultern. „Vielleicht kann ich Kleider anziehen, damit das Wasser nicht so kalt ist?“
Werner lachte meckernd wie eine Ziege – er war zweisprachig neben einem Ziegenstall aufgewachsen – und schüttelte dabei seinen Kopf so oft von rechts nach links und wieder zurück, dass ihm schwindelig wurde, und er beinahe ins Wasser geplumpst wäre. „Das bringt nichts. Wenn die Kleider nass sind, werden sie schwer wie Blei und wärmen tun sie auch nicht mehr.“
„Du hast gut reden, du hast warme Federn, überall um dich rum. Wenn ich solche Federn hätte, würde ich mich direkt ins Wasser stürzen. Sogar mit einem Kopfsprung.“
„Hmm, da hast du natürlich recht. Aber warum frierst du denn so? Andere kleine Kinder gehen doch auch ins Wasser?“
„Ich habe es lieber warm.“

Ole mochte es von Anfang an lieber mollig und warm. Das war auch der Grund, warum er keinerlei Interesse zeigte, auf die Welt zu kommen. Drinnen im Bauch hatte er es sich bequem eingerichtet. Ihm hatte gefallen, sich um nichts kümmern zu müssen. Alles war geregelt. Essen, trinken, schlafen – unproblematisch bei Temperaturen wie im Hochsommer.
In seiner Verzweifelung hatte er sogar versucht, die Wehen davon zu überzeugen, nicht einzusetzen. Das ist ungefähr so, wie wenn man ein Orchester am Einsatz hindern möchte. Aber jeder muss so handeln, wie es für ihn vorgesehen ist. Ein Orchester, das nicht einsetzt, wenn der Dirigent mit dem Taktstock schlägt, ist nicht zu gebrauchen. Und eine Wehe – das ist zugegebenermaßen kein Kompliment – kann nun mal nichts anderes außer einzusetzen.
Mit seinen langen Klavierspielerfingern hatte Ole der Oberwehe damals über den Kopf getätschelt, was zuvor noch nie ein werdender Mensch bei einer Wehe gemacht hatte. „Bitte, kannst du mich nicht einfach hier lassen. Ich werde dich nicht verraten. Ich will dein Freund sein“, flehte er wie ein Hase, der vor dem Wolf mit dem großen Hasen-Hunger steht. Alles leeres Geschwätz, aber die Oberwehe fiel darauf herein, weil ansonsten nie jemand solche Schmeicheleien zu ihr sagte.
„Ich schaue, was sich machen lässt. Aber irgendwann muss ich einsetzen, ich kann nicht anders.“
Ole durfte noch ein paar Tage in der Geborgenheit im Bauch seiner Mutter bleiben. Doch dann konnte sich die Wehe nicht mehr zurückhalten. Mit einem lauten „Wehe, wehe!“, setzte sie ein, Ole von der einen Seite gedrückt, von der anderen unter lautem Geläut gesogen, wurde gegen seinen erklärten Willen in das gleißende Licht des Jenseits entlassen.
Die Kälte, die ihn empfing, war so unendlich, dass Ole in eine Schreckstarre verfiel. Erst ein Schlag auf sein Hinterteil riss ihn in das Leben aller. Er wusste, dass er wieder dahin zurückwollte, wo er hergekommen war. Er schrie und zeterte. Aber mehr als ein wärmendes Tuch war nicht dabei herausgesprungen.

„Ich habe eine Idee“, sagte Werner stolz. „Ich schenke dir eine meiner Federn. Die hältst du an dich. Sie wird dich wärmen, wenn du ins Wasser springst. Ist das nicht ein toller Plan?“
„Ist eine Feder nicht ein bisschen zu wenig für mich?“, fragte Ole vorsichtig.
„Vielleicht, aber ich reiße nicht für jedermann eine meiner Federn aus.“
Ole freute sich über die Ehre, die Werner ihm entgegenbrachte.
Werner drehte den Kopf einmal herum und konnte so schauen, was sein Entenschwänzchen machte. Dann pickte er beherzt in sein Federkleid und riss sich eine stattliche Feder heraus. „Hier für dich, ein unbedeutendes Geschenk meinerseits.“
Ole nahm die Feder stolz in die Hand. Im nächsten Moment aber versetzte ihm Werner einen Stoß. Ole verlor das Gleichgewicht. Einen kurzen Augenblick sah es so aus, als könne er sich auf seinen Beinchen und auch das Gleichgewicht halten. Aber vergebens. Mit einem kurzen Schrei fiel er vom Sprungbrett, die Feder fest an sich gedrückt. Eine Feder allein macht aber noch keinen Fallschirm, sonst hätte er sanft in das Becken gleiten können. So allerdings fiel sein Körper hinab wie ein reifer Apfel, den der Oktober zur Erde wirft und riss einen flüchtigen Krater in die Wasseroberfläche. Im nächsten Moment verschwand er. Ole war vollends vom Wasser umgeben. Und einer Stille, wie er sie noch aus dem Bauch seiner Mutter erinnerte. Vor lauter Schreck vergaß er über die Kälte nachzudenken, vor der er sich so gefürchtet hatte. Vielleicht schützte ihn auch die Feder von Werner. Wer weiß das schon?
Ole paddelte unter Wasser wie ein Hund, der einen Stock zurück an Land bringt. Er hatte keine Angst mehr. Auf seinem Gesicht war ein Lächeln gemalt. Das Tauchen begann, ihm zu gefallen. Er merkte, wie sich mit jeder seiner Bewegung die Richtung verändern ließ. Ole schlug mit den Beinen und Armen. Jetzt sah es auch nicht mehr so aus, als könnte er nur paddeln.
Neben ihm landete mit einem lauten Krachen eine Bombe. Das dachte Ole zumindest zuerst. Es war aber nur der Bademeister, der ins Becken gesprungen war. Noch ehe Ole sich versehen konnte, riss ihn der Schwimmbadretter an die Wasseroberfläche und setzte ihn auf den Beckenrand.
„Was machen sie da?“, rief Ole, der gar nicht nach Luft schnappen musste.
„Ich rette dich. Ich bin der Bademeister“, schnaufte der Bademeister, ganz außer Puste geraten vom Leben retten.
„Aber ich bin doch Taucher!“
„Ohne Sauerstoffflaschen?“
„Ohne Sauerstoffflaschen. Wie die Perlentaucher.“
„Das wusste ich nicht. Entschuldige, dass tut mir leid.“
Ole wollte zurück ins Wasser. Werner stand immer noch auf dem Sprungbrett und applaudierte mit seinen Flügeln.
Mit einem Babysatz sprang er zurück in die Fluten. Wieder schlug das Wasser über ihm zusammen.
Nun hatte er den Spaß gefunden, den man braucht, um ein Bad genießen zu können. Wieder schwappte das Wasser über ihm zusammen. Es macht ihm nichts aus. Im Gegenteil. Es zog ihn an, hinab in die Tiefe. Die gedämpften Geräusche. Seine Armbewegungen wurden geschickter. Man hätte meinen können, dass ihm zwischen seinen Klavierspielerfingern Schwimmhäute gewachsen wären, mit denen er geschmeidig wie eine ausgewachsene Makrele durch das Wasser glitt.
Neben ihm schlug etwas ein. Zuerst dachte Ole, es sei der Bademeister, der meinte, wieder Leben retten zu müssen. Dann aber sah er, dass es Werner auf einem Tauchgang war. Er trug die rote Bademütze und eine Chlorbrille. Vielleicht bekam er ansonsten rote Augen. Sie tauchten um die Wette. Nach rechts, nach links. Die Angst vor der Kälte war verschwunden, weggetaucht, weggeschwommen. Von unten sahen die alten schwimmenden Männer aus wie kranke Frösche. Was sie wohl dachten, während sie aussahen wie Frösche?
Ole tauchte wieder auf. Werner folgte ihm wie ein Knappe seinem Ritter. Ole wollte Rückenschwimmen. Er konnte es, ohne dass es ihm jemand gezeigt oder dass er es in einem Film über fortgeschrittenes Rückenschwimmen im Fernsehen gesehen hätte. Kraftvoll zerteilten seine Arme das Wasser. Werner saß auf seinem Bauch und sagte „Olé“, weil es sich fast wie Ole anhörte.

Nach ein paar Bahnen tippte Werner mit seinem Schnabel gegen die Stirn: „Ich muss gehen.“
„Schon? Warum?“
„Termine.“
Da kann man nichts machen. Wer Termine hat, hat eben Termine.
„Es war mir eine Freude, Ole.“
„Ganz meinerseits und ebenso.“
Werner drückte sich von Oles Bauch ab wie ein Senkrechtstarter vom Flugzeugträger. Er durchmaß mit kräftigen Schlägen noch einmal die Schwimmhalle. Dann flog er geradewegs auf die großen, geschlossenen Fensterscheiben zu. Das musste ja so kommen. Die schwarzen Aufkleber, die die Vögel davon abhallten sollten, gegen die Scheiben zu fliegen, schienen Werner egal. Nur noch wenige Meter. Jetzt würde er zerschellen. Doch nichts passierte. Der Krach blieb aus. Nicht ein leichtes Klopfen oder ein Aufprall war zu hören. Werner flog einfach durch die Scheibe hindurch und draußen weiter. Vielleicht war die Scheibe gar keine, oder Werner keine Ente. Egal, der Scheibe wird keiner einreden können, sie sei ein Stück Luft und Werner keiner, dass er keine Ente sei.

Ole winkte noch einmal kurz zum Fenster und tauchte zum Abschluss eines erfolgreichen Schwimmbadbesuches hinab auf den Boden und zählte die Kacheln. Kacheln zählen muss man normalerweise nur, wenn man etwas ausgefressen hat, aber Ole machte es Spaß. Aber bei der dritten Kachel verzählte er sich.
Als er wieder an Land war, ging er zur Bademeisteraufsichtskabine.
„Ich gehe jetzt.“
„Nichts für ungut für die Rettungsaktion eben“, sagte der Bademeister.
„Ist o. k. Rufen Sie mir ein Taxi?“

Zuhause wartete schon Oles Mutter mit dem Abendessen. Zum Glück gab es keine Entenbratwürstchen.