Donnerstag, 10.4. – 15 Uhr
Auf dem Weg nach Chemnitz machen wir eine Rast – die Busfahrerin muss mal, eine Pause machen, weil das die Lenkzeitenregelung so vorschreibt. Ist wahrscheinlich besser so. In der Raststätte gibt es einen Toilettenzugang für einen Euro und die Oldtimer-Praxis für Dreineunzig. Der Klozugang wird von einer Shell-Mitarbeiterin bewacht. Wahrscheinlich hat man schlechte Erfahrungen mit Limbotänzern gemacht, die sich unter der Kinderschranke in den Erleichterungsbereich durchgetanzt haben. Heute wird nicht getanzt. Es bleibt ruhig. Die Shell-Frau wirkt. Ich bin für mehr Shell-Frauen in neuralgischen Bereichen. In der Titelgeschichte der Oldtimer-Praxis wird unter der Überschrift „Zurück in die Zukunft“ der Citroen CX vorgestellt – ich weiß, dass auf das E zwei Punkte kommen, aber nicht, wo sie sich auf der Tastatur verbergen. Wir hatten zwei davon, die Kombiversionen, Break sagte Citroen dazu – zuerst einen silbernen und später einen gold-metallic-farbenen. Der erste hatte nur 75 PS, hieß familienintern Silberfisch, der zweite verfügte immerhin über 95 Pferdestärken, hieß aber nicht, was eigentlich nahegelegen hätte, Goldfisch. Heute traut sich kein Auto mit mehr als zwei Meter Länge mit dieser PS-Zahl auf die Straße. Ich habe das Mehr gefeiert und war bei beiden Verkäufen sehr traurig, weil wir keine Haustiere hatten, nicht mal Fische.
Donnerstag, 10.4., früher Abend
Google sagt, wir sollen von der Autobahn runterfahren. Sabine, unsere Busfahrerin macht das. Ich finde, wir sollten mehr Landstraße wagen. Deutschland ist schön.
Donnerstag, 10.4., 18.51 Uhr
Auf den ersten beiden Autobahnbrücken in Thüringen, unter die wir hindurch fahren, stehen Menschen und schwingen Deutschlandfahnen. Warum? Ist doch schönes Wetter.
Donnerstag, 10.4. – 22 Uhr
Wir sind in Chemnitz angekommen. Im Jahr der Kulturhauptstadt. Bei der Bundestagswahl im Februar hat die AFD 32,7 Prozent der Zweitstimmen erhalten, das BSW 10,8%. Beides bereitet mir ein mulmiges bis sehr mulmiges Gefühl, die 32,7 Prozent ein sehr mulmiges. Ich frage mich, ob man dieses Ergebnis fühlt oder gar sieht. In unserer Ferienwohnung bin ich mit fünf Kindern, drei haben einen asiatischen Migrationshintergrund. Der Nachbar/die Nachbarin unseres Appartements hat die Wohnungstür mit zahlreichen Aufklebern „verziert“. Auf einem brennt in ihnen die schwarze Sonne, ein Aufkleber will die Antifa ficken und der Freund eines Aufklebers ist Sachse. Einmal bietet der Verfasser eines anderen Aufklebers die Optionen Nationalsozialismus oder Untergang. Vielleicht bedeutet aus Sicht eines Nazis Demokratie Untergang. Ich wähle Untergang. Wüsste gerne, wie man zu dieser Sicht auf die Dinge kommt. Wüsste aber nicht, ob er/sie offen auf eine Anfrage reagieren würde.
Ich denke an die Kinder. Wir gehen zu einem Pizza-Imbiss, namens Persepolis, in dem Pizza und Döner gibt. Im Nachbarraum darf man rauchen, wenn man volljährig ist. In Nordrhein-Westfalen darf man gar nicht mehr in der Gastronomie rauchen. Ich glaube, ich weiß warum, aber ich rauche ja auch nicht. Und deswegen anfangen?
Wir essen in unserer Wohnung. Die Stimmung ist gut, die Kinder satt. Die Aufkleber hat keiner gesehen.