Tom hält die Tasse mit seinen beiden Händen fest. Es ist seine Lieblingstasse. Und wie der Name schon sagt, muss man auf Sachen, die einem lieb sind, ganz besonders aufpassen. Dass Tom so gerne aus ihr trinkt, hat einen Grund, einen einfachen sogar, obwohl dieser Grund etwas Einmaliges ist. Man hört nämlich ganz, ganz leise Musik, wenn man aus ihr trinkt. Manchmal dringt sie so vorsichtig und leise aus der Tasse hinaus, als ob die Musik Angst hätte, die Tasse zu verlassen. Ein anderes Mal erklingt sie wiederum klar und deutlich. Aber eines ist sicher. Die Musik kommt aus der Tasse. Es ist eine feine Melodie. Und wenn Tom sie hört, schmeckt ihm seine Milch oder sein Tee noch mal so gut, auch wenn die Melodie manchmal etwas traurig klingt.
Wenn man den Küchenschrank öffnet, steht Toms Lieblingstasse alleine neben all den anderen Tassen und Bechern, so als ob sie nichts Besonderes wäre. Keine andere sieht ihr ähnlich und eine Kindertasse ist sie eigentlich auch nicht, weil sie aus wirklich feinem und dünnem Porzellan gefertigt wurde. Blaue, fein gemalte Blumen mit Blättern, Blüten und Stängeln zieren sie.
Tom mochte die Tasse von Anfang an, wie einem ein im Sonnenlicht glitzernder Waldsee auf den ersten Blick gefallen kann. Er hat so lange gebettelt, bis ihm seine Mutter erlaubte, immer aus ihr trinken zu dürfen.
„Sei vorsichtig! Sie ist alt und wertvoll. Du darfst sie nicht fallen lassen!“, sagte seine Mutter damals. Und Tom wusste, dass er ganz behutsam mit ihr umgehen musste.
Am Anfang fragte er sich oft, warum die Tasse Musik machte, die nur er hören konnte. Seine Eltern fanden auch, dass der Kaffee besser schmeckte als sonst, aber eine Melodie konnten sie nie hören. Sie zuckten nur mit den Schultern.
Früher drehte Tom, wenn er alleine in der Küche war, die leere Tasse öfter um und schüttelte sie. „Vielleicht fällt die Musik ja heraus!“, sagte er sich. Aber nichts geschah. Er hielt sein rechtes Ohr an die Öffnung. Aber die Musik war nicht zu hören. Manchmal vernahm er nur ein leichtes Rauschen, das ein bisschen wie Meer klang. Aber so klingen leere Tassen immer, wenn man sie dicht an das Ohr hält. Das Geigenspiel begann jedes Mal in dem Moment, in dem Tom etwas in die Tasse hineingoss, egal ob es Wasser, Milch oder Tee war. Aber zu sehen war nichts, so sehr er sich anstrengte.
Das Reich des Tassenkönigs
Tom konnte auch nichts sehen, denn der, der die Musik machte, war so klein, dass ihn kein Adler dieser Welt oder selbst ein Mikroskop hätte sehen können. Er wuchs aber immer in dem Moment, wenn man etwas Flüssiges in die Tasse schüttete, obwohl man ihn deswegen trotzdem nicht sehen konnte. Er trug einen roten Mantel mit weißem Pelzbesatz und eine goldene Krone auf dem Kopf. Seine Augen waren blau und gütig, sein Bart weiß wie Schnee. In der Hand hielt er eine Geige und einen Bogen. Er konnte natürlich nicht immer spielen, auch ein Geige spielender König braucht manchmal eine Pause. Aber immer dann, wenn sein Thron, seine Tasse, gefüllt wurde, wuchs und spielte er, egal ob es gerade Tag oder Nacht war. Sein Spiel konnten nur Kinder hören; die Erwachsenen nicht, weil sich ihre Ohren im Laufe der Zeit durch zu viele Autos, Flugzeuge und Streitigkeiten abgenutzt hatten.
Früher war alles anders. Der König musste nicht alleine musizieren, weil er in seinem eigenen Orchester spielte. In dem Orchester spielten alle seine Untertanen mit ihm. Jeder von ihnen wohnte auf einem Teller oder in einer Tasse, und alle zusammen bildeten das Königreich. Das Königreich des Tassenkönigs. Manchmal, wenn alle Teile fein säuberlich im Schrank zusammengestellt waren, hatte das Reich des Tassenkönigs eine Höhe von zehn Tellern und war so breit wie der Regalboden im Schrank. Wenn es aber auf dem Tisch ausgebreitet wurde, erstreckte sich das Gebiet vom rechten bis zum linken Tischende. Dem König war die Größe seines Reichs egal. Ihm ging es nur um die Musik und die Freude, die er damit machen konnte.
Manch einer fragt sich jetzt vielleicht: “Warum wohnt der König in der Tasse, wo doch jede Schüssel größer und stattlicher ist?“ Der Grund ist einfach. Tassen sind seit jeher immer etwas Besonderes, weil die Menschen nur sie beim Trinken mit ihren Lippen oder der Zunge berühren. Manch einer leckt zwar nach dem Essen den Teller ab, aber das gehört sich nicht. Das war der Grund, warum der König und die Königin in den zwei schönsten Tassen Musik machten. Sie spielten die erste und die zweite Geige, in der großen Suppenschüssel sangen alle Diener und Dienerrinnen in ihren schwarz-weißen Kleidern. Es gab einen Teller, auf dem ein General und der Hofnarr in ihre Posaunen bliesen, auf einem der Suppenteller schlug der Gärtner die Trommel, die Königsbotin spielte Flöte. So hatte jedes Geschirrteil seinen Musikanten. Das Geschirr kam nur bei festlichen Anlässen auf die Tafel, weil es besonders schön war und das Essen darauf so vorzüglich schmeckte. Ansonsten lag es in dem großen weißen Vitrinenschrank mit den gläsernen Türen.
Dieser Vitrinenschrank gehörte wiederum dem Kaiser Enuasop, der damals Herrscher über ein großes Reich mit Bergen, Wüsten und einem halben Meer war und aussah wie der Tassenkönig nur in Groß. Zu seinem 60. Geburtstag hatte ihm der Zauberer Lemmort, der in einem Loch in der Wüste wohnte, das Geschirr geschenkt. Er war es, der den Tassenkönig und sein Gefolge in die Tassen, Schüsseln und auf die Teller gezaubert hatte. Er wusste um die Freude des Kaisers Enuasop an der Musik. Nur er, Lemmort und der Kaiser sollten das Konzert des Orchesters hören können, dachte sich Lemmort, als er den Zauberspruch aufsagte. Dass auch die Kinder die Musik hörten, hatte er bei seinem Zauber schlichtweg übersehen, was aber nicht weiter schlimm war, weil Lemmort Kinder sehr gerne mochte. Die anderen Menschen mussten sich damit begnügen, dass ihnen das Essen ganz vorzüglich mundete, ohne sich genau erklären zu können, woher das wohl kommen mochte.
Der Kaiser hatte sich sehr gefreut, als Lemmort ihm das Geheimnis ins Ohr flüsterte. Das verzauberte Geschirr war das schönste Geschenk, das Enuasop an seinem Geburtstag gemacht wurde. Viele schenkten ihm goldenen Schmuck und silberne Pokale, aber nichts war so schön wie das kleine Orchester des Tassenkönigs.
Manchmal, wenn Enuasop nachts nicht schlafen konnte, stand er auf, ging an den großen Vitrinenschrank in der Küche seines Schlosses und füllte die Königstasse mit Wasser auf. Er wusste, dass in dem Moment, in dem ein Tropfen den Tassenboden berührte, der König Geige spielen würde. Er lauschte ein paar Minuten und bedankte sich anschließend, wie es seine Untertanen ihm gegenüber taten.
„Danke, Majestät!“, sagte er meist lächelnd.
Danach konnte er wieder beruhigt einschlafen.
Als Dankeschön lud Enuasop den Zauberer Lemmort ein, in seinem Schloss zu wohnen. Aber Lemmort wollte wieder zurück in sein Sandloch, wo es tagsüber so schön warm war und nachts die Kälte durch den Sand kroch wie eine dicke Schlange. Aber Lemmort mochte die Hitze des Tages und die Kälte der Nacht. Hier war sein Zuhause, auch wenn es eine große Ehre gewesen wäre, im Schloss des Königs zu wohnen.
Als Kaiser gab es viele Anlässe zu feiern. Der Geburtstag des Kaisers oder seiner Frau, ein Jubiläum oder der Besuch eines befreundeten Königs. Die Gäste kamen gern zu Enuasop, weil sein Essen jedes Mal aufs Neue so vorzüglich schmeckte und Essen in dieser Zeit das Wichtigste im Leben war. Fernseher und Fußball gab es nämlich noch nicht. Zu dieser Zeit existierten noch nicht einmal Gläser, so dass Wein auch aus Tassen getrunken wurde.
„Majestät, warum schmeckt bei Ihnen das Essen immer so gut? Sind es Ihre Köche? Oder liegt es gar an Ihrem Geschirr? Es ist wirklich sehr, sehr schön.“, sagten sie und waren der Antwort so nah, ohne es zu ahnen.
Der Kaiser schmunzelte und antwortete: „Ja, das Geschirr ist sehr, sehr schön, aber meine Köche machen dieses wunderbare Essen.“
Da waren seine Gäste zufrieden und häuften sich noch mehr Fleisch und Kartoffeln auf ihre Teller.
Das Besteck
Wo ein Geschirr ist, da gibt es auch ein Besteck. Denn wo ein Suppenteller ist, da muss es auch einen Löffel geben. Und wer nicht mit Messer und Gabel das Fleisch schneidet, sondern von der Hand in den Mund lebt, der ist ein armer Teufel und hat an der königlichen Tafel nichts zu suchen.
Die Messer, die Gabeln, die kleinen wie die großen, die Löffel für die Suppenschüssel, die kleinen für den Tee schimmerten in strahlendem Silber. Manchmal, wenn einer der Diener vergaß, sie ordentlich zu polieren, bekamen sie schwarze Punkte, als ob sie Windpocken hätten, nur in Schwarz. So glänzend und strahlend sie links und rechts neben den Tellern lagen, so schwarz und gemein konnten sie sein. Beachtete man sie eine Zeitlang nicht und bekamen sie die dunklen Punkte, sah man, wie es wirklich um sie bestellt war. Sie wollten immer im Mittelpunkt stehen. Vor allen Dingen die Messer duldeten keine Bewunderung neben sich. Sie sollten die Schärfsten sein. Wenn sie so da lagen auf der Tafel, vom Kerzenschein geschmeichelt leuchteten sie stolz, wenn sich das Licht in ihnen spiegelte. Es war ein schöner Anblick und ein schönes Besteck. Aber sie hörten auch, dass alle Gäste immer nach dem Geschirr fragten, und warum gerade hier das Essen so hervorragend schmeckte. Keiner sagte etwas zu den Messern, den Löffeln und den Gabeln. Das kränkte sie.
Was dem Besteck auch nicht passte, war der Ort, an dem sie aufbewahrt wurden. Sie durften nicht wie das Geschirr in dem hellen Vitrinenschrank liegen, sondern mussten eingewickelt in einer braunen Holztruhe im Dunkeln einer Schublade auf das nächste Festessen warten. Dann ärgerten sie sich wieder so, dass sie die schwarzen Flecken bekamen und poliert werden mussten.
Eines Nachts, nach einem großen Essen bei Kaiser Enuasop, bei dem die Gäste wieder einmal von dem vorzüglichen Essen und dem sehr schönen Geschirr geschwärmt hatten, sagte ein ganz besonders scharfes Messer:
„Das kann so nicht weitergehen. Keiner beachtet uns. Alle reden nur von diesem Geschirr. Wir müssen uns wehren. Wir müssen zeigen, dass wir die Schönsten und die Wichtigsten auf dem Tisch sind. Wer könnte ohne uns die Suppe löffeln und das Fleisch schneiden? Niemand. Wir sind die Wichtigsten!“
Das sagte er zweimal, damit es jeder, auch die dümmste Kuchengabel verstand. Das Besteck wusste um das Reich des Tassenkönigs. Es war ihm schon immer ein Dorn im Auge. Es wollte selbst etwas ganz Besonderes sein.
Eine Kuchengabel, die sich gerne ereiferte, meldete sich zu Wort: „Ja, lasst es uns diesem überheblichen Geschirr zeigen!“ Ein Raunen ging durch die Besteckkiste.
„Bis Morgen kann sich jeder überlegen, was wir unternehmen“, sagte das scharfe Messer. Die anderen klimperten zustimmend. Danach war die erste Sitzung des Bestecks geschlossen.
Am nächsten Abend begann das scharfe Messer wieder, ohne viel Umschweife zu sprechen.
„Wer hat eine Idee?“
Die Kuchengabel von gestern meldete sich zu Wort.
„Ich bin dafür, dass wir das Geschirr zerschlagen. Wir sind genügend an der Zahl und stark genug sind wir auch.“
Das war ein schlimmer Plan, den die Gabeln und die Messer schmiedeten.
Da meldete sich die große Suppenkelle zu Wort: „Vielleicht finden wir nicht die Beachtung, die wir wollen, aber wir wissen doch, dass die Menschen uns brauchen. Keiner will ohne uns essen, Suppe ohne Löffel gibt es nicht, Fleisch ohne Messer und Gabel auch nicht. Lasst uns weiter so leben wie bisher!“ Die Löffel raunten Zustimmung. Sie waren die Friedfertigsten und die Gemütlichsten von allen. Sie genossen die Abendessen mit Kerzenlicht, dem schönen Geschirr und dem munterem Gerede derer, die am Tisch saßen. Ihnen war es wichtiger, den Tee herumzurühren oder die Suppe zu tragen, denn als die wichtigsten Sachen am Tisch angesehen zu werden.
Ein Aufschrei ging durch die Gabeln und Messer. „Feiglinge seid ihr! Angst habt ihr. Wir müssen etwas tun. Wir stimmen ab!“
Und so fand eine Abstimmung statt, während sich der Kaiser und sein Gefolge von den Anstrengungen des Tages ausruhten, ohne von den dunklen Plänen des Bestecks etwas zu ahnen.
Schließlich überstimmten Messer und Gabeln die Löffel und die Suppenkelle, weil sie in der Mehrheit waren. Das Ziel sollte darin bestehen, noch heute Nacht das Geschirr zu zerschlagen. Die Löffel gaben kleinlaut bei, trauten sich aber nicht zu sagen, dass sie nicht mitmachen wollten, weil sie ein bisschen feige waren. Keiner besaß den Mut, nicht in den Kampf zu ziehen.
Der Angriff
In den frühen Morgenstunden sollte es losgehen. Bis dahin wollte man sich ausruhen und Kräfte sammeln für den Angriff. Als die Sonne den Horizont das erste Mal mit einem hellen Band bemalte und der Nacht vor dem Morgen graute, sprang das Besteck aus seiner Schublade heraus und mit lauten Schreien in den Vitrinenschrank. Dann begann ein fürchterliches Gemetzel. Teller wurden zerschlagen, alle Tassen zertrümmert. Am schlimmsten wüteten die Messer. Ihre Klingen schlugen hart auf das Porzellan ein, so dass es auseinanderbrach. Die Scherben fielen auf den Boden und vermehrten sich zu Hunderten. Es war ein grausames Bild. Die Teller kreischten, die Tassen schrieen, doch das Orchester blieb stumm. Man hörte keinen einzigen Ton. Keine Saite wurde angeschlagen, keine Pauke geschlagen. Es gab keine Gegenwehr. Man hörte nur das Klirren und das Schreien. Es schien, als ob es dunkler geworden wäre in dem großen Küchenschrank. Dunkler, als es die Nacht sonst zuließ.
Eine halbe Stunde wütete das Besteck, die Messer und Gabeln waren über und über mit schwarzen Punkten besät. Als ob sie die Pest hätten. Sie waren in einem wahren Rausch. Die Löffel und die Suppenkelle schämten sich, aber es war zu spät, sich zu schämen. Das Reich des Tassenkönigs war untergegangen. Mit dem Zerschlagen des Geschirrs löste sich nämlich der Zauber aus Tellern und Tassen. Die Musiker lösten sich auf. Das Orchester gab es nicht mehr.
Als die Bediensteten am nächsten Morgen das Unglück sahen, konnten sie sich zuerst keinen Reim darauf machen, wie dieses Gemetzel passieren konnte, aber dann sahen sie, dass die Besteckschublade nicht richtig verschlossen war und die kleine, aufrührerische Kuchengabel schwarz wie ein Rabe im Vitrinenschrank zwischen den Scherben lag. Jetzt wussten sie, wer für all das Schreckliche verantwortlich war. Die Trauer über den Verlust des Geschirrs ließ das Gesicht des Kaisers versteinern. Dann wurde er wütend. Seine Augen bekamen eine rote Farbe, als ob jemand Erdbeersaft hineingeschüttet hätte. Er wusste nicht, warum das Besteck das getan hatte, aber er wollte die Messer und Gabeln und Löffel nicht mehr sehen. Er schenkte jedem seiner Bediensteten ein Besteckteil. Der Hofnarr bekam die Suppenkelle, der Bote die kleine Kuchengabel, die Diener jeder einen Suppenlöffel. Jetzt lagen sie getrennt von ihrer Besteckfamilie mit billigen anderen Besteckteilen wahllos zusammen. Geputzt wurden sie nicht mehr. Sie hatten genau das Gegenteil von dem erreicht, was sie eigentlich erreichen wollten. Die Messer haderten weiter mit ihrem Schicksal und waren bald ganz schwarz, die Löffel wussten, dass sie selbst für ihre Situation die Schuld trugen.
Zwei Geschirrteile waren allerdings heil geblieben. Es war Zufall, ein glücklicher Umstand, der sie am Leben ließ. Der König, der wieder einmal nicht schlafen konnte, war um Mitternacht in die Küche gegangen und hatte in die Tasse des Königs und der Königin Milch gegossen. Die Milch selbst hatte er nicht angerührt. Aber die beiden hatten angefangen zu spielen. Der Kaiser saß zu dieser nächtlichen Stunde vor den beiden Tassen, den Kopf auf seine beiden Hände gestützt und lauschte. Dabei schmunzelte er, verneigte und bedankte sich hernach, wie er das immer zu tun pflegte. Die Tassen ließ er zurück, nur ein paar Meter vom Vitrinenschrank entfernt. Diese kleine Entfernung reichte jedoch zu ihrer Rettung. Sie hatten alles mitansehen und –hören müssen. Es war schrecklich. Die Königin war in die Tasse des Königs geklettert. Er hatte sie in den Arm genommen und dann hatten sie gemeinsam geweint. Das war das erste Mal, dass einer aus dem Orchester seine Tasse verlassen hatte.
In den folgenden Jahren zerfiel das Reich des Kaisers Enuasop wie ein Kartenhaus, aus dem man eine wichtige Karte herauszieht. Enuasop musste mit ein paar Getreuen flüchten. Seine Lieblingstasse nahm er mit. In den Wirren des Aufbruchs vergaß er aber die Tasse der Königin. Von da an waren sie voneinander getrennt. Keiner wusste, wo der andere war. Die Trauer um seine Königin und sein Reich ließen den König deshalb so oft traurig schöne Melodien spielen.
Wie die Tasse schließlich bei Toms Großmutter gelandet war, konnte keiner sagen. Irgendwann stand sie im Küchenschrank und tat so, als ob sie dort schon immer gestanden hätte. Später schenkte Toms Großmutter die Tasse seiner Mutter. Und jetzt trinkt Tom aus ihr.
Ein kleines Wunder
Sonntags gehen Tom und sein Vater öfter auf den Flohmarkt. Wenn es nach Tom ginge, wäre jeden Tag Flohmarkt. Es bereitet ihm normalerweise großen Spaß, zwischen den Ständen herumzukriechen und zu schauen, ob er etwas Interessantes zwischen all den kleinen und großen Schätzen finden kann. Doch heute scheinen die Leute nur unnötige Sachen zu verkaufen. Viele bieten alte Kleider, Briefmarken und Autoreifen an. Kleider sind langweilig und Autoreifen hatten sie vier an ihrem Auto. Wer braucht da noch weitere? Beim letzten Mal fand er eine Dose voller Murmeln. Sein Vater kaufte sie ihm. Das war eine tolle Sache, auch wenn seine Mutter das drei Tage nicht mehr fand, als sie auf den gläsernen Kugeln ausgerutscht und auf ihren Hosenboden gefallen war.
Tom ist heute richtig enttäuscht. Sein Vater verspricht ihm deshalb ein Eis. Aber was ist schon ein Eis gegen eine Dose Murmeln?
Tom und sein Vater gehen in Richtung Parkplatz, auf dem das Auto steht. Auf der linken Seite des Ganges ganz am Schluss steht eine alte Frau und hat eine Decke mit allerlei Krimskrams ausgebreitet. Tom ist schon vorbeigelaufen, als er plötzlich das Gefühl hat, jemand hätte ihn gerufen. Er dreht sich herum, aber da ist keiner, der ihn gerufen haben könnte. Sein Blick fällt auf die Decke der alten Frau und liegt da jetzt so rum und guckt. Plötzlich weiß Tom, dass ihn nichts gerufen hat, sondern dass sich ein Bild vor seine Augen schob und das war so, als ob ihm jemand auf die Schulter geklopft oder gerufen hätte. Auf der Decke der alten Frau liegt eine kleine, feine Tasse mit einem blauen Blumenmuster.
„Stopp!“, ruft Tom seinem Vater zu, der schon ein paar Schritte vorgegangen ist.
„Was ist denn los?“, fragt er ungeduldig, weil er nach Hause will, um sein Mittagsschläfchen halten zu können.
„Ich habe etwas gefunden, das wir kaufen müssen!“, sagt Tom nachdrücklich.
Er hält die kleine Tasse in den Händen, dreht und wendet sie vorsichtig. Es gibt keinen Zweifel. Diese Tasse gehört zu Toms Lieblingstasse und umgekehrt. Toms Vater, der keine Lust hat, lange zu feilschen und Zeit zu verlieren, kauft die Tasse. Es ist schon kurz nach halb Eins. Er will jetzt schnell ins Bett. Auf der Heimfahrt hält Tom seinen Schatz in beiden Händen und streichelt vorsichtig über den Rand.
Zu Hause angekommen zeigt er seiner Mutter stolz seine Errungenschaft. Zuerst spült er die Tasse kurz aus, dann schüttet er ein bisschen Tee in sie hinein und trinkt einen Schluck. Da hört er es wieder. Eine kleine, zarte Melodie. Tom freut sich so sehr über seinen Fund, dass er ausgelassen durch die Küche tanzt und dabei vergisst, die beiden Tassen nebeneinander zu stellen. Er stellt sich vor, wie er ab jetzt jede Woche eine Tasse auf dem Flohmarkt findet und sie dazukauft.
Der Tassenkönig und seine Gemahlin ahnen nicht, dass sie zum ersten Mal seit ein paar hundert Jahren nur wenige Meter voneinander getrennt sind. Abends stellt Toms Mutter die Tasse der Königin in den Küchenschrank, da wo auch die Tasse des Königs steht, aber genau auf die andere Seite. Als sie die Tür schließt, wird es dunkel. Wenig später liegen Tom und seine Eltern im Bett und schlafen.
Plötzlich hört der Tassenkönig ein leises Geigenspiel vom anderen Ende des Schranks.
„Langsam werde ich verrückt. Das hat die Einsamkeit aus mir gemacht. Ach, mein Königreich wäre mir noch egal, aber meine Königin fehlt mir so.“ Er seufzt. Aber das Geigenspiel verstummt nicht. Der König wird neugierig. Die Melodie kennt er doch. Lange ist es her, dass er sie hörte. Doch, es gibt keinen Zweifel. Das ist sie. Entweder ist er jetzt wirklich verrückt, oder seine kleine Königin spielt irgendwo hier im Schrank. Der König nimmt seine Geige in die Hand und legt sein Kinn auf den Geigenteller. Dann beginnt er zu spielen und setzt wieder ab. Das andere Geigenspiel verstummt für einen Moment.
„Oh, ich habe mich wohl doch verhört“, denkt der König enttäuscht. Doch gerade, als er den Gedanken ausgedacht hat, spielt die andere Geige wieder, dieses Mal eine neue Melodie. Er antwortet ihr. Das geht so lange, bis sich der König sicher sein kann, dass ihm sein Kopf keinen Streich gespielt hat und er nicht verrückt ist. Wenn man ihn so anschaut und sieht, wie aufgeregt und schnell sein Herz schlägt, könnte man glauben, es sei Weihnachten und er dürfte gleich die größten und schönsten Geschenke auspacken.
Dann macht er etwas, was er noch nie in seinem Leben getan hat. Er klettert aus seiner Tasse. Damals beim Angriff des Bestecks stieg die Königin in seine Tasse, er aber hat die seinige nie verlassen. Es sieht etwas schwerfällig aus, weil er nicht im Training ist und die Geige ein bisschen stört. Jetzt läuft er zwischen den einzelnen Untertassen und Bechern in die Richtung, aus der vorhin das Geigenspiel kam, und spielt selbst. Die andere Geige antwortet, und die Melodie wirkt viel fröhlicher als noch zu Anfang. Und lauter. Sie wächst sozusagen mit jedem Schritt. Der kleine König ist ganz außer Atem. Laufen, Spielen, Sich freuen – das ist ganz schön anstrengend. Jetzt steht er vor der Tasse, die das gleiche Muster ziert wie seine. Er streichelt vorsichtig über ein aufgemaltes Blatt und klopft dann gegen das feine Porzellan. Sein Herz schlägt wie das eines Radfahrers, der gerade auf einen hohen Berg gefahren ist.
„Hallo, ich bin hier oben“, hört der König eine Frauenstimme. Er kann es nicht glauben, es ist die Stimme seiner Königin. Er schaut nach oben, und da sieht er den Kopf mit dem Gesicht, das er so lange vermisst hat. Und sie sieht genauso aus wie vor ein paar hundert Jahren.
„Warte, ich komme runter.“ Wenig später klettert die Königin die Tasse hinab und steht nun mit ihrer kleinen goldenen Krone vor dem König. Dann umarmen sie sich, nicht ohne vorher die Geigen aus den Händen gelegt zu haben. Der König weint vor lauter Glück. Die Tränen kullern aus seinen Augen auf seinen weißen Bart. Die Königin freut sich, ohne zu weinen. Wer genau hinschaut, erkennt, dass es im Küchenschrank silbern hell ist, als ob der Mond leuchten würde. Aber das kann nicht sein, weil doch die Tür verschlossen ist. Nachdem sich der König und die Königin lange gedrückt und geküsst haben, versuchen sie, die Tasse der Königin auf die andere Seite des Schranks zu schieben, was aber nicht gelingt, weil sie viel zu schwer ist. Der König überlegt nur kurz. Dann nimmt er die linke Hand der Königin und führt sie durch die anderen Tassen und Becher hindurch zu seiner Tasse.
„Wir dürfen uns nie mehr trennen lassen!“, sagt er feierlich. Die Königin nickt.
Dann klettern sie beide in die Tasse hinein, wo genug Platz für Beide ist und spielen gemeinsam ihr Lieblingslied. Einmal, zweimal und sie werden nicht müde, es immer und immer wieder zu spielen.
Seit dieser Nacht denkt Tom jedes Mal, wenn er aus der Tasse trinkt, dass die Musik, die aus der Tasse ertönt, viel fröhlicher klingt als früher. Und manchmal glaubt er, sogar zwei Geigen zu hören.