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Thorsten Hellwig
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Als Jan am nächsten Morgen aufwachte, glaubte er zuerst, alles nur geträumt zu haben. Hans lag neben ihm, rührte sich nicht, war einfach ein stinknormales Stofftier. Seine Augen blickten starr und glasig an die Decke. Jan nahm Hans in beide Hände und schüttelte ihn, als ob er hoffte, dass ein Wort herausfallen könnte. Aber nichts dergleichen geschah.
Wenigstens wusste er jetzt, warum der Löwe überhaupt zum König der Tiere gewählt worden war. Bei dem Gedanken an den pinkelnden Löwen musste er lachen und auch aufs Klo.

„Mama“, fragte er beim Frühstück, „wann ist das nächste Mal Vollmond?“
„Keine Ahnung. Schau mal auf dem Kalender nach.“ In der Küche, direkt neben dem Radio hing an der Pinnwand ein Kalender, auf dem Jans Mutter Geburtstage aufschrieb und festhielt, wann der Sperrmüll kam. Jan hatte diesem Kalender nie große Aufmerksamkeit geschenkt, weil er wusste, wann er Geburtstag hatte und mehr interessierte ihn nicht. Doch sein fehlendes Interesse änderte sich an diesem Morgen. Und tatsächlich. Der Kalender zeigte, an welchem Datum der Mond ein bisschen, halb und ganz voll sein würde.
„Warum willst du das denn wissen?“
„Nur so.“
Wer mit „Nur so“ antwortet, sagt nie die Wahrheit, weil keiner „nur so“ eine Frage stellt. Wenn jemand also mit „Nur so“ antwortet, muss man auf der Hut sein. Aber Jans Mutter fiel das nicht auf, weil gerade in dem Moment, in dem Jan antwortete, die Milch überlief.
„So ein Mist“, sagte sie.
Und wer so ein Mist sagt, der findet auch jedes „Nur so“ in Ordnung. Es roch nach angebrannter Milch.
Jan zählte am Kalender die Tage bis zum nächsten Vollmond.
„Mist, Mist, Mist“, fluchte seine Mutter derweil, weil es schon sehr nach verbrannter Milch stank.
Neunundzwanzig Mal würde Jan schlafen müssen, bis der Mond wieder in voller Größe am Himmel hängen würde.
Wenn er in den folgenden Tagen nachts aufwachte, weil er schlecht geträumt oder zuviel getrunken hatte, dachte er immer, es sei Vollmond.
„Hans, bist du wach? Erzählst du mir eine neue Geschichte?“, fragte er, den Kopf noch halbvoll mit Schlaf.
Aber Hans war nicht wach, sondern schaute ihn nur stumm und ausdruckslos an, wie ein normales Stofftier eben. Irgendwann traute sich Jan überhaupt nicht mehr zu fragen.

Doch eines Nachts, Jan wusste gar nicht mehr genau, ob nun Vollmond herrschte oder nicht, wälzte er sich wieder von rechts nach links und wieder zurück.
„Du nervst schon wieder“, hörte er eine knurrige Stimme.
Jan freute sich so sehr, dass er sich noch einmal herumwarf.
„Du nervst. Wenn du nicht aufhörst, rede ich nie mehr ein Wort mit dir und wandere in die Saraha aus!“
„Was ist die Saraha?“
„Du weißt nicht, was die Saraha ist?“, fragte Hans und sah Jan an, als ob er der dümmste Junge der Welt sei.
„Das ist die größte Wüste der Welt!“ sagte Hans feierlich und schüttelte den Kopf.
„Heißt die nicht Sahara?“, fragte Jan wiederum vorsichtig.
„Willst du mit mir eine Diskussion anfangen über einen Landstrich in Afrika – dem Kontinent, aus dem ich stamme?“ Hans hörte sich ziemlich beleidigt an. Jan wollte ihn nicht weiter reizen.
„Warum willst du denn in die Wüste?“
„Weil da keine kleinen Jungen sind, die sich  im Bett herumwälzen und meine Nerven ruinieren.“
Jan merkte, dass eine weitere Diskussion nichts brächte. Trotzdem sagte er: „Wohnen Löwen nicht in der Savanne?“
Hans schaute ihn streng an.
„Ich bin auf jeden Fall froh, dass du noch lebst“, beeilte sich Jan zu sagen.
„Warum sollte ich nicht mehr leben?“
„Weil ich so lange nichts mehr von dir gehört habe.“
„Doch, ich lebe noch. Außerdem ist heute erst wieder Vollmond. Schau mal raus!“
Hans hatte Recht. Der Mond stand in voller Größe am Himmel. Ein paar Wolken trieben an ihm vorbei, aber sie schafften es nicht, ihn wirklich zu verdecken.
„Und sonst geht es dir gut?“, wollte Jan wissen.
„Ja natürlich, wenn man davon absieht, dass du nervst und Vollmond ist. Aber das gehört wohl dazu.“
„Zu was?“
„Zu meinem Leben.“ Hans seufzte, und wenn man es nicht besser gewusst hätte, hätte er einem Leid tun können. Tat er aber nicht. Er hatte ein Bett, gehörte einem netten Jungen und Hunger musste er auch keinen leiden, weil er nichts aß. „Ich glaube, ich habe auch etwas Kopfschmerzen.“
Jans Vater glaubte auch öfter, er habe Kopfschmerzen. Dann wollte er immer viel Zuwendung.
Jan streichelte über Hans Kopf und kraulte ihn ein bisschen unter dem weichen Hals.
„Ich glaube, der Schmerz fliegt gerade dahin wie ein Schmetterling“, schnurrte Hans.
 „Nicht einschlafen! Du wolltest mir eine Geschichte erzählen.“
„Ach ja.“ Hans war etwas verärgert, weil er gehofft hatte, er würde die ganze Nacht durchgekrault.
„Na ja, versprochen ist versprochen und wiederholen ist gestohlen.“
Stofflöwen reden manchmal dummes Zeug.
 „Wo waren wir stehen geblieben?“
„Der Löwe war zum König gewählt worden und hatte sich zum Schlafen hingelegt.“
Jan legte sich auf den Rücken und lauschte den Worten seines Stofflöwen, der keinen Kopfschmerz mehr zu haben schien.

„Die Königswürde des Löwen dauerte nun schon eine Woche an. Wer geglaubt hatte, dass sich der Löwe bereits am nächsten Tage auf den Weg gemacht hätte, Mutter Erde zu finden und mir ihr zu verhandeln, sah sich getäuscht. Denn der Löwe schlief.

„Du musst wissen, Jan, der Löwe brauchte ungeheuer viel Schlaf, um ein guter König sein zu können.“
„Hat der Löwe, bevor er König wurde, auch so viel geschlafen?“, fragte Jan.
„Ja. Bevor er König wurde, brauchte er ungeheuer viel Schlaf, um ein guter Löwe zu sein.“
Jetzt wollte Jan es genau wissen.
„Wenn der Löwe jetzt kein König geworden wäre. Nur mal angenommen, hätte er dann auch so viel Schlaf gebraucht.“
„Ja, wahrscheinlich“, sagte Hans genervt. „Darf ich jetzt die Geschichte weiter erzählen, oder willst du weiterhin mit das Spiel „Was wäre, wenn…“ spielen?“
Jan wollte zuallererst die Geschichte hören und schwieg.

Hans wollte erzählen und holte tief Luft.
Jan unterbrach ihn erneut. „Du Hans, was ist mit dem Maulwurf passiert?“
Hans atmete aus, und es hörte sich so an, wie wenn man mit dem Fahrrad über einen Nagel fährt und die Luft entweicht. „Ach ja, der Maulwurf. Der Maulwurf? Ach, der Maulwurf!“ Das Gedächtnis von Hans schien nicht mehr das allerbeste zu sein.
„Der Maulwurf hatte die Nacht neben seinem König gelegen. Am nächsten Morgen schaute er auf seine Uhr, obwohl er sie wegen seiner schlechten Augen ja überhaupt nicht lesen konnte. Trotzdem sagte er: “Oh Majestät, es ist schon spät. Ich muss los!“
Aber Majestät schliefen noch und hörten sich im Schlaf alles andere als majestätisch an. Der Versuch, den Löwen zu wecken, scheiterte kläglich, weil der König in einen wahrhaft königlichen Schlaf gefallen war. Als ihn der Maulwurf mit einem seiner spitzen Grabarme anpiekste, schnarchte der Löwe nur ärgerlich, wobei seine Nase einmal nach oben und dann wieder nach unten hüpfte.
 „Besser als nichts“, dachte sich der etwas einfältige Maulwurf und bohrte sich, die Nase voran, wieder zurück in seine Heimat. Wie nicht anders zu erwarten, kam er zu spät zum Mittagessen. Das gab Ärger, seine Frau und die Maulwurf-Kinder, die Maulwürfchen, warteten schon, das Essen war bereits kalt. Immerhin konnte er von den gemeinsamen Tänzen mit allen Tieren berichten und, dass ihn, der neue König aller Tiere, bei seinem Abschied angeschnarcht hatte. Sogar zwei Mal. Die Freude darüber im Maulwurfshügel war groß.
Wer kann das schließlich schon von sich behaupten?“

Hans machte eine kurze Pause: „Kraulen!“
„Bitte!“, sagte Jan.
„Nein, kraulen.“
Einem unhöflichen Stofflöwen ist nicht beizukommen. Jan kraulte ihn kurz.
 „Jetzt aber weiter!“
„Bitte heißt das.“
„Nein, weiter.“
Und zu Jans Überraschung erzählte Hans tatsächlich weiter.

„Der Löwe lag immer noch an Ort und Stelle und schlief. Man weiß bis heute nicht, ob der Löwe in der Lage ist, im Schlaf zu feiern. Vielleicht tut er das. Manchmal hatte es den Anschein, als lachte der Löwe, während er schlief. Möglicherweise feierte er seinen Sieg, zum König gewählt worden zu sein. Das wäre von großem Vorteil, denn dann wäre die ganze verschlafene Zeit nicht umsonst gewesen. Der Löwe wachte in diesen sieben Tagen immer nur kurz auf, besorgte sich etwas Kleines zum Fressen und ging hinter den Baum zum Pinkeln, seiner Paradedisziplin. Zwischen Pipigang und Nachtisch freute er sich wieder, dass er zum König gewählt worden war und schlief erneut ein. So ging das eine Woche.

Am Morgen des achten Tages wachte der Löwe erfrischt und ausgeschlafen auf. Der erste Gedanke, der sich in sein Bewusstsein bohrte, war: „Jetzt! Jetzt geht `s los!“ Er freute sich über diesen Gedanken, weil er so schön kurz war und sich nach Tatendrang anhörte. Doch dann fragte er sich: „Was sollte denn eigentlich losgehen? Musste er wieder Pipi machen oder sich etwas zum Fressen besorgen?“
Nach ein paar Minuten angestrengten Nachdenkens fiel es ihm ein. Er hatte eine Aufgabe. Und wegen dieser Aufgabe hatte man ihn zum König gewählt: Er sollte mit Mutter Erde verhandeln, dass sie das große Land nicht auseinander brechen ließ.
Das Ächzen und Stöhnen des Landes war in den letzten Tagen lauter und lauter geworden, weil sich Mutter Erde nun endgültig entschlossen hatte, sich zu teilen. Die Tiere lebten in einer großen Angst, weil sie nicht wussten, was die Zukunft bringen würde. Der schlimmste Zustand, den man sich denken kann, ist nämlich die Unsicherheit. Wer endgültig weiß, dass das Land auseinander brechen wird, kann sich darauf einstellen. Aber so hoffte jedes Tier noch auf seinen König, den Löwen. Die Königsboten informierten ihn regelmäßig über die Vorkommnisse und zeigten sich sehr besorgt, der Löwe nach diesen Berichten entschlossen, seiner Aufgabe gerecht zu werden. Er musste Mutter Erde finden. Doch wo? Wo hielt sie sich auf? Wo aß sie? Wo schlief sie?
Der Löwe hatte keine Ahnung. Wie sollte er auch? Er fragte den alten, hohen Baum, aber der zuckte mit den Ästen. Selbst dem Königsadler, der über allem schwebte und sich die Welt aus der Vogelperspektive anschaute, versiegten die Ideen, wo sich Mutter Erde aufhalten könnte.

Vor Verzweifelung und Nachdenklichkeit schlief der Löwe ein. Ein unsanftes Pieksen riss ihn aus seinen Träumen, in denen er trotz aller schweren Gedanken einen fröhlichen Walzer mit Mutter Erde tanzte. Vor ihm stand ein Schwein, aber kein gewöhnliches. Die gewöhnlichen waren die Haus- und die Wildschweine, obwohl die einen kein Haus hatten und die anderen sanfte Persönlichkeiten waren und alles andere als wild. Sei `s drum. Neben den gewöhnlichen existierten noch die so genannten außergewöhnlichen Schweine – Landkarten-, Boten-, Wissens- und Gemeinschweine, um nur einige von ihnen zu nennen. Dem Löwen gegenüber hatte es sich ein Wissensschwein gemütlich gemacht: „Ich habe gehört, du sollst mit Mutter Erde verhandeln und weißt nicht, wo du sie finden kannst? Ist das richtig?“ Das Wissensschwein fragte wie ein Polizei-Kommissar.
Der Löwe nickte nur, weil er nach dem Schlaf immer einen unangenehmen Geschmack im Mund hatte, den er keinem zumuten wollte. Auch dem Schwein nicht.
„Weißt du überhaupt, wer Mutter Erde ist, und wo sie sich aufhält?“, wollte das Wissensschwein wissen.
Der Löwe schüttelte den Kopf.
„Du stehst auf ihr!“, sagte das Schwein sehr langsam und grinste überheblich, weil es wusste, dass es den Löwen damit ordentlich überraschen konnte.
Und tatsächlich. Der Löwe stotterte und verschluckte sich, so überrascht war er. Dabei vergaß er auch seinen Mundgeruch: „Wie soll das denn gehen? Ich stehe darauf?“, fragte er ungläubig. Er stand vorsichtig auf und schaute unter sich, konnte Mutter Erde aber nicht entdecken, wobei er nicht wusste, was er hätte entdecken sollen. Das Gesicht des Wissensschweins zuckte für den Bruchteil eines Sekündchens, weil das Löwenmaul tatsächlich eine stattliche Fahne königlichen Mundgeruchs verließ.
Die Vorstellungskraft des Löwen bezüglich Mutter Erde war sehr beschränkt. Die Idee, mit ihr zu verhandeln, war damals nicht in seinem Kopf entstanden, sondern in dem eines Nashorns. Und dieses Nashorn wiederum hatte von seiner Großmutter seinerzeit eine Geschichte von Mutter Erde und Vater Staat gehört, die es damals aber nicht verstand. Zumindest bewahrte es den Begriff Mutter Erde in seinem dicken großen Nashornkopf auf und war somit Auslöser für die Idee mit der Verhandlung. Keiner hatte sich Gedanken darüber gemacht, wer das denn eigentlich sei, Mutter Erde. War es ein Tier, ein Mensch mit einem Kleid und einem Hut, eine Wolke, ein großer Berg? Bei der Wahl zum König der Tiere schien auf jeden Fall jedem Anwesenden klar, dass es einen Verhandlungspartner gäbe. Und nun?
Der Löwe kratzte sich mit seiner linken Vordertatze am Kopf, was er immer tat, wenn er nicht mehr weiter wusste. Eines könnt ihr glauben: Wenn sich ein König am Kopf kratzt, sieht er alles andere als königlich aus. In solchen Momenten merkt man, dass ein König einer von uns ist. Und das ist schön.
„Pass auf!“, sagte das Wissensschwein. „Wir stehen alle auf Mutter Erde. Mutter Erde ist kein Tier, keine Person und keine Pflanze. Sie ist wir alle.“
„Häääh?“, war das einzige, was dem König dazu einfiel. Die Aussage „Sie ist wir alle“ war zu kompliziert für seinen Kopf.
„Mutter Erde ist die Erde, auf der wir leben. Sie ist das große Land, das auseinander zu brechen droht, die Berge und die Meere. Sie ist alles zusammen. Und da wir alle Teile von dem großen Ganzen sind, ist Mutter Erde wir alle.“
Der Löwe verstand bei weitem noch nicht alles, aber er wollte sich andererseits nicht die Blöße geben, erneut nachfragen zu müssen. Deshalb sagte er im Brustton der Überzeugung: „Ach so! Sag das doch gleich!“ Das Wissensschwein und der verständnislose König schauten sich an.
„Was machen wir jetzt?“, fragte der Löwe in der Hoffnung, beim Wissensschwein Hilfe zu finden.
„Wir stehen zwar Beide auf Mutter Erde, aber es gibt eine Möglichkeit, mit ihr zu sprechen. Sie besteht nur aus einem Kopf, nämlich der Erde. Wer einen Kopf hat, hat auch zwei Ohren. Ihre Ohren sind die höchsten Vulkane, die man auf dem Land überhaupt finden kann. In einen davon musst du hineinsprechen, um mit ihr zu verhandeln. Eine andere Möglichkeit, mit ihr Kontakt aufzunehmen, besteht meines Wissens nicht. Und ich muss es ja wissen, schließlich bin ich ein Wissensschwein.“
Es gab also doch eine Chance, seine Aufgabe durchzuführen. Der Löwe freute sich: „Wo sind diese Vulkane?“
„Einer ist gar nicht weit von hier entfernt. Ich werde dir ein Landkartenschwein rufen, das dir den Weg zeigt.“
Das Wissensschwein grunzte etwas Schweinisches in einen ausgehöhlten Stein. Es verstrichen ein paar Minuten, bis ein Landkartenschwein vor dem König und dem Wissensschwein stand und zur Begrüßung ein Hallo grunzte.
„Ich hoffe, ich konnte dir weiterhelfen“, sagte das Wissensschwein selbstbewusst und unbescheiden. Es wusste genau, dass es dem König mächtig geholfen hatte.
„Wie kann ich mich erkenntlich zeigen?“
„Du kannst mich loben und mich weiterempfehlen.“
„Wissensschwein, du bist ein tolles Wissensschwein. Wie heißt du überhaupt?“
„Wissensschwein Nr. 12.“
„Ich werde dich weiter erzählen.“
„Weiter empfehlen.“
„Sag ich doch!“
„Viel Glück!“, wünschte das Schwein dem Löwen. Und es war ernst gemeint, weil es ja schließlich auch um die Zukunft aller Schweine ging.
„Danke schön“, sagte der Löwe und machte sich mit dem Landkartenschwein auf den Weg zu dem einen Ohr von Mutter Erde. Landkartenschweine sehen aus wie normale Schweine. Der Unterschied besteht innerlich. Sie haben nämlich sämtliche Wege und Straßen der Welt in ihrem Kopf gespeichert. Man muss sie nur fragen, wie man von A nach B kommt, worauf sie kurz die Augen schließen und sich ihre Landkarte vor dem inneren Auge anschauen. So zogen sie los. Wenn sie abbiegen mussten, kündigte das Landkartenschwein die Änderung rechtzeitig an: „Noch hundert Meter, dann müssen wir nach rechts, noch fünfzig Meter, jetzt abbiegen!“ Dem Löwen ging das richtungsweisende Gegrunze des Schweins bald so auf die Nerven, dass er es abstellte und seinem nunmehr schweigenden Führer nur noch ebenso schweigend folgte.
Es dauerte mehrere Stunden, bis die Beiden den Fuß des Vulkans erreicht hatten.
„Hoch musst du alleine, mein König!“, sagte das Landkartenschwein.
„Danke Schwein, dass du mich hierhin begleitet hast. Du hast mein Segel.“ Der Löwe sprach manchmal sehr salbungsvoll, aber das müssen Könige können. Das ist bis heute so geblieben.
„Was ist ein Segel?“, wollte das Schwein wissen.
„Du weißt nicht, was ein Segel ist?“, fragte der Löwe erstaunt.

Jan wusste jetzt, von wem sein Stofflöwe Hans die Eigenschaft hatte, Worte falsch zu gebrauchen. Es schien ein Löwen-Problem zu sein.

„Nein, aber ich bin ja auch nur ein Landkarten- und kein Wissensschwein“, antwortete das Schwein leise.
„Ein Segel soll dir viel Glück bringen und dich beschützen!“
„Heißt das nicht Segen?“, fragte das an sich dumme Landkartenschwein, das aber gar nicht so dumm war, wie es aussah und wie es sich immer darstellte.
„Vielleicht hieß es früher Segen, heute heißt es Segel, und ab morgen heißt es wieder Segen. Heute ist nämlich ein ganz besonderer Tag. Verstehst du?“
Feierlich sprach der Löwe diese Worte aus.
Das Schwein freute sich so sehr über den Segel oder den Segen oder was auch immer, dass sich zwei Tränen in seine Augen drückten. Dann trennten sich ihre Wege.

Der Löwe begann zuerst mit dem Aufstieg und dann nach wenigen Metern bereits mit dem Schnaufen. Wer schon einmal in den Bergen war, weiß, dass einem das Atmen immer schwerer fällt, je höher man kommt. Das hängt damit zusammen, dass die Luft weiter oben immer dünner wird. Auf dem Gipfel ist sie schließlich so dünn und mager, dass man sie überhaupt nicht mehr sehen kann. Deshalb muss man mehr atmen und gerät wie der Löwe ins Schnaufen. Zudem hatte der sich in letzter Zeit viel zu wenig bewegt, um solch einen hohen Vulkan so mir nichts dir nichts besteigen zu können.
Während der Löwe sich mühsam Schritt für Schritt nach oben kämpfte, dachte er sich, dass er so hässliche, graue Gesteinsohren wie Mutter Erde nicht haben wollte. Aber er sagte natürlich nichts, weil er nicht wusste, wie empfindsam Mutter Erde darauf reagieren würde. Und die Mission, wegen der er auf ihrem Ohr herumkraxelte, zeigte sich wahrscheinlich schon ohne Beleidigungen als schwierig genug. Er musste sehr vorsichtig zu Werke gehen. Die Sonne rollte sich schon am Horizont in die Nacht hinab, als der Löwe den Kraterrand erreichte. Er war fix und fertig und zu müde, sein Maul für irgendetwas Nützliches einzusetzen, wenn man einmal vom Gähnen absah. Während sich der Mond und die Sterne noch redlich mühten, das große Land in ein helles Licht zu tauchen, hatte der Schlaf den Löwen schon übermannt und mit in sein Reich genommen. Da lag der König der Tiere und träumte von einer triumphalen Verhandlung mit Mutter Erde, die alles so beließ, wie es seit langen Jahren war. Seine Untertanen feierten ihn stürmisch.
Wer den Löwen genau betrachtete und hinhörte, konnte ein zufriedenes Schmatzen aus seinem Maul vernehmen.

„Ich darf nie schmatzen, zumindest nicht beim Essen“, sagte Jan, der bis dahin aufmerksam zugehört hatte.
Hans nickte langsam wie ein alter weiser Mann mit langem Bart: „Du musst unterscheiden: Im Schlaf darf man schmatzen, was das Zeug hält, aber nur da und nicht beim Essen. Derjenige, der beim Träumen schmatzt, ist eine respektable Persönlichkeit und ein netter Kerl. Wer beim Essen schmatzt ist ein Ferkel.“
„Erzähl weiter!“
„Weißt du, was das Gemeine an einem Traum ist?“, fragte Hans.
Jan schüttelte seinen Kopf.
„Das Gemeine an einem Traum besteht darin, dass es eben nur ein Traum ist. Ich will damit Folgendes sagen: Wenn man mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen aufwacht, weil man den Traum für bare Münze genommen hat und dann feststellt, dass alles nur Schall und Rauch war, kann das ziemlich enttäuschend sein. Wie beim Löwen, der mit dem Gedanken aufwachte, bereits alle Probleme gelöst zu haben. Und was war? Ein dicker Pustekuchen.“

„Schade“, dachte der Löwe ein bisschen enttäuscht, als er aufwachte. Weil die Nacht auf dem harten Vulkangestein sehr unbequem gewesen war, machte er zur Auflockerung ein paar gymnastische Übungen.
„Jetzt, jetzt geht `s los!“, dachte der Löwe wieder und trat vorsichtig an den Rand des Kraters. Als seine Augen das riesige, schwarze Loch erblickten, verließ ihn sein Mut so schnell, wie ein Düsenflugzeug nicht fliegen kann. Seine leicht krummen Beine zitterten wie ein Ast im kalten Winterwind. Der Löwe hatte eine angeborene Höhenangst. Und dagegen kann man nichts unternehmen, auch wenn man gerade zum König gewählt wurde. Sie ist einfach da und lässt sich nicht wie eine lästige Fliege abschütteln. Wegen der Höhenangst klettern Löwen auch nicht auf Bäume wie der Leopard oder der Koalabär.
Die Furcht des Löwen vor dem Abgrund erschwerte allerdings die Durchführung seiner Aufgabe. Wie sollte er mit Mutter Erde verhandeln, wenn er sich nicht getraute, in ihr Ohr zu sprechen, weil ihm schwindelig war? Der Löwe nahm allen Mut zusammen und schaute ein zweites Mal in den tiefen Abgrund. Ein großer Schwindel breitete sich in seinem Kopf und seinem Körper aus, so dass er sich nur mühsam auf den Beinen halten konnte. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Was nun, Herr König?
Beim dritten Versuch robbte der Löwe langsam mit geschlossenen Augen bis zum Rand des Kraters. Das Schlimmste war der Blick in die Tiefe. Mit verschlossenen Augen musste es gehen, und es ging. Der Löwe atmete tief ein. Und wie sich seine Lungen mit Luft füllten, füllte sich sein Kopf mit Selbstbewusstsein. Er fühlte sich für die Verhandlung gewappnet:
„Liebe Mutter Erde, hier spricht der König der Tiere. Ich muss mit dir verhandeln, weil du das große Land auseinander brechen lassen möchtest!“ Trotz seines eingeatmeten Selbstbewusstseins sprach der Löwe viel zu leise, als dass ihn irgendjemand, außer dem Luchs vielleicht, hätte verstehen können. Die Höhenangst machte seine Stimme leiser.
Der Löwe setzte nun alles auf eine Karte und sammelte seine ganze Kraft und Konzentration, um laut in den Krater hinabzubrüllen, dass er mit ihr, Mutter Erde sprechen müsste und dass es sehr dringend sei. Dabei hatte er sogar die Augen geöffnet, was ihm erst später auffiel. Er wartete ab, aber nichts passierte. Mutter Erde reagierte nicht. Der Löwe packte den größten Stein, den er finden konnte, und schleuderte ihn mit aller Wucht in die Tiefe des Vulkans. Nichts passierte. Aus dem Loch ertönte ein klitzekleines Grummeln, aber das war wirklich nur so klein, dass man es eigentlich gar nicht hätte erwähnen müssen.
„So eine Pleite!“, dachte der Löwe. „Ein schöner König bist du!“, dachte er weiter und tat sich ein bisschen Leid.
Noch zweimal brüllte er in den Krater hinein und warf alle Steine, die er finden konnte, hinterher, als ob er das Gebrüllte noch einmal betonen wollte. Aber es blieb dabei: die einzigen Reaktionen waren jeweils ein kleines Echo und ein noch kleineres Grummeln aus der Tiefe.
Der Hals schmerzte dem Löwen von der ganzen Brüllerei. Er zuckte mit den Schultern und machte sich an den Abstieg, der trotz der Enttäuschung bedeutend schneller von statten ging als der Aufstieg. Aber so ist das im Leben.
Als er unten ankam, wartete schon das Wissensschwein von neulich auf ihn. Es trug ein Gefäß mit Wasser bei sich und bot dem Löwen einen Schluck an: „Du bist bestimmt durstig. Hier trinkt was!“
Der Löwe war tatsächlich durstig und trank schnell und hastig.
„Majestät, mir ist noch etwas eingefallen, was ich gestern vergessen hatte.“ Das Wissensschwein hörte sich weitaus weniger selbstbewusst an als noch am gestrigen Tage. Ja, es klang geradezu kleinlaut.
„Was gibt `s, Schwein?“
„Ich habe vergessen, dir zu sagen, dass Mutter Erde auf diesem Ohr taub ist.
„Soll das etwa heißen, dass Mutter Erde mich überhaupt nicht verstehen konnte. Habe ich in ein taubes Loch gebrüllt?“
„Ja, so ungefähr.“ Der Kopf des Schweins leuchtete jetzt nicht mehr rosa, sondern himbeerrot. „Außerdem ist Mutter Erde der größte Dickkopf, den man sich vorstellen kann. Ich habe mit einem Bach gesprochen, und der weiß aus sicherer Quelle, dass es noch keiner geschafft hat, Mutter Erde von einem Plan abzubringen, den sie zuvor gefasst hat. Trotzdem tut es mir leid.“
„Das war dumm von dir, Schwein, aber ich verzeihe dir. Eine andere Chance hätten wir sowieso nicht gehabt. Aber das kommt davon, wenn man meint, schlauer als die anderen zu sein. Ich gebe dir trotzdem meinen Segel.“
“Was?“
„Segel.“
„Segen?“
„Ja, genau. Ab heute heißt es wieder Segen.“
„Danke schön.“
„Bitte schön.“
Mehr sagte der Löwe nicht. Er wollte nach Hause. Wieder  bestellte das Wissensschwein ein Landkartenschwein, das den König sicher zurückführte.

Die Nachricht, dass die Verhandlungen mit Mutter Erde nicht stattgefunden hatten, verbreitete sich wie ein Lauffeuer im ganzen Tierreich. Der Löwe hatte ein bisschen Angst, dass ihn die Tiere als König absetzen könnten, weil er die Aufgabe nicht erfüllt hatte. Aber nichts dergleichen geschah. Viele besuchten sogar ihren König und bedankten sich für die Mühen, die er auf sich genommen hatte. Sie wussten jetzt, dass das Land auseinander brechen würde. Unfreiwillig hatte der Löwe Klarheit geschaffen. Und eine schlimme Klarheit ist häufig besser als Unsicherheit.

Die einzige, die sich wirklich freute, dass der Löwe die Aufgabe nicht lösen konnte, war die Hyäne. Sie lachte schadenfroh und hielt sich auch weiterhin für den besseren König. Sie hatte zugegebenermaßen das kräftigere Gebiss, aber das allein reicht eben nicht aus.
Nur eines kann ich dir hier und jetzt noch erzählen: Eigentlich hat die Hyäne sogar Glück gehabt, dass sie keiner zum König wollte, weil sie ansonsten mit Sicherheit vor lauter Lachen in den Vulkan gefallen wäre.

Der Löwe lag wieder unter seinem Baum und merkte erst jetzt, dass Angst zu haben, ganz schön müde machen kann. Egal, ob es sich dabei um Höhenangst oder die Angst, abgewählt zu werden, handelt. Seine Lider wurden schwer wie zwei Elefantenbeine und ehe man zweimal mit den Augen gezwinkert hatte, war er eingeschlafen. Ende der Geschichte.“

„Das ist aber ein trauriges Ende“, stellte Jan fest. 
„Warum?“
„Weil Mutter Erde auseinander bricht.“
„Vielleicht ist das ja gar nicht schlimm. Heute leben wir doch auch nicht alle in einem Land.“
„Vielleicht hast du Recht.“
„Wie geht es weiter?“
„Sag ich nicht.“
„Bitte!“
„Danke! Nein, du musst dich gedulden. Aber du darfst mich gerne noch etwas kraulen.“

Hans hob den Kopf. Jan kraulte ihn und freute sich auf den nächsten Vollmond. Und weil Vorfreude bekanntlich die schönste Freude ist, schlief er mit einem Lächeln ein.