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Thorsten Hellwig
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Jan freute sich, dass er Felix in sein Geheimnis eingeweiht hatte. Und Felix freute sich, dass Jan ihn an seinem Geheimnis teilhaben ließ. So waren beide sehr zufrieden. Schon am nächsten Morgen hatten die beiden wieder auf dem Kalender geschaut, wann das nächste Mal Vollmond sein würde. Leider lag der nächste Vollmond auf einem Sonntag. Und am nächsten Tag würde Schule sein. Jan und Felix überlegten fieberhaft, wie sie es wohl schaffen könnten, zusammen die Nacht zu verbringen.
Aber erstens kommt alles anders und zweitens als man denkt.
Zwei Tage nämlich vor dem großen Ereignis war Felix von einem Kirschbaum gefallen und hatte sich den Arm gebrochen. Das schien schon schlimm genug. Aber das noch Schlimmere war, dass er im Krankenhaus liegen musste. Und das auch am Sonntag. Jan besuchte ihn jeden Tag, weil das Krankenhaus nicht weit von der Wohnung seiner Eltern entfernt lag. Felix schaute unglücklich drein, als er erfuhr, dass er länger im Krankenhaus würde bleiben müssen.
Doch Jan hatte eine Überraschung parat. Obwohl es ihm mächtig schwer gefallen war, hatte er Hans in seinen Rucksack gepackt und Felix mitgebracht. Als Überraschung sozusagen. So etwas nennt man einen wahren Freundschaftsbeweis. Felix freute sich über seinen tollen Freund und über Hans.
Jan war hin- und hergerissen. Zum einen freute er sich für Felix, zum anderen wollte er aber auch die neue Geschichte von Hans hören. Vielleicht würde Hans diese Nacht aber gar nicht wach werden, weil sich Felix mit seinem Gips nicht so herumwälzen konnte.
Die Lage war schwierig, aber nicht hoffnungslos.
Jan zermartere sein Hirn und hatte eine Idee. Wieder eine Überraschung. Aber er verriet nichts.
Er verabschiedete sich von Felix und sagte ihm, dass er sich die Geschichte, die Hans ihm erzählen würde, ja gut merken solle.
Felix versprach es.
„Danke Jan, du bist ein richtig guter Freund.“
Und da hatte er zweifelsohne Recht.

Am Sonntag abend legte sich Jan in sein Bett, nachdem er seinen Eltern gute Nacht gesagt hatte. Wer ihn da so in seinem Bett liegen sah, konnte nichts Besonderes merken. Sein Mund schmeckte nach dem Zähneputzen nach Pfefferminz, er trug seinen Schlafanzug. Es war wie immer. Mit einem kleinen Unterschied: Jan hatte sich fest vorgenommen, heute nacht Felix und Hans einen kleinen Besuch abzustatten. Allein wegen der Geschichte.
Die Kirchturmuhr schlug elf Mal. Um Elf wollte Jan aufbrechen. Jans Herz schlug ungefähr so laut wie die Glocken der Kirchturmuhr. Jedenfalls dachte das Jan. Hoffentlich würden seine Eltern nicht wach durch das Pochen seines Herzens. Aber es kamen keine Eltern, die nachfragten, was denn hier so einen Krach machte. Jan kletterte vorsichtig aus seinem Bett. Der Mond hing am Himmel wie ein großer silberner Schweizer Käse und leuchtete Jan den Weg zu seinen Kleider und den Schuhen mit der Gummisohle. Seine Eltern schliefen bereits. Als er am Schlafzimmer seiner Eltern vorüber schlich, hörte er das gleichmäßige Schnarchen seines Vaters. Jetzt merkte Jan auch, wie leise im Vergleich dazu sein Herz schlug. Trotzdem war er aufgeregt. So etwas hatte er noch nie gemacht. Eine Diele knarrte. Tagsüber konnten die Dielen knarren und ächzen, es wäre keinem aufgefallen. Aber jetzt, wo rundherum jedes Geräusch zu schlafen schien, war Jan felsenfest davon überzeugt, dass nunmehr das ganze Haus aufwachen müsste. Doch nichts dergleichen geschah. Alles und jeder schlief weiter. Wie zuvor.
Als Jan die Haustür hinter sich vorsichtig ins Schloss gezogen hatte, atmete er erst einmal tief durch. Es kam ihm vor, als ob er die letzten fünf Minuten die Luft angehalten hätte.
Draußen vor dem Haus hatte sich die Kälte in die Nacht gebissen und schien sie nicht loslassen zu wollen. Zum Glück trug er seinen blauen Anorak. Sein Atem stieg in grauen Schwaden aus seinem Mund in die Luft in Richtung Mond, ohne ihn jemals zu erreichen.
Jan kannte den Weg zum Krankenhaus genau. Es dauerte keine fünf Minuten. Die Straßen waren verwaist, hier und da brannte ein vereinzeltes Licht. Aber kein einziger Mensch begegnete Jan.
Beim letzten Mal, als er Felix besucht hatte, hatte er sich schon überlegt, wie er am Pförtner vorbeikommen könnte. Die Türen des Krankenhauses öffneten sich wie von Geisterhand, fast geräuschlos. Der Eingangsbereich war in ein kaltes Licht eingetaucht, das von den Neonröhren stammte. Der Pförtner saß auf seinem Stuhl hinter einer Scheibe, fast wie in einer Bank und hatte die Hände auf den Kopf gestützt. Es schien, als ob er lesen würde. Tat er aber nicht. Er schlief. Seine Hände hielten den Kopf. Die Augen waren verschlossen. Den Mund hatte er geöffnet. Ein bisschen Spucke fiel auf seine Zeitung.
„Das ist ja noch einfacher, als ich es mir vorgestellt habe“, dachte Jan und passierte mit drei, vier schnellen Schritten den schlafenden Mann am Eingang. Er huschte in den zweiten Stock, nicht ohne vorher immer zu hören, ob ihm nicht ein Arzt oder eine Krankenschwester entgegenkäme. Wenn man es nicht besser wüsste, hätte man meinen können, im Krankenhaus gäbe es nachts nur Kranke und einen schlafenden Pförtner.
Kurze Zeit später öffnete Jan die Tür von Felix Zimmer. Zum Glück hatte Felix ein Einzelzimmer.
Felix erschreckte sich fürchterlich, als Jan ihn an der Schulter rüttelte und wollte gerade los schreien. Jan legte ihm geistesgegenwärtig die Hand auf den Mund.
Felix hatte sich wieder gefangen: „Was machst du denn hier?“, fragte er Jan, trotzdem noch viel zu laut.
„Psst, bist du wahnsinnig? Wenn du weiter so schreist, kommt die Krankenschwester, und dann sind wir verratzt.“
„Warum bist du denn hier?“ Jetzt flüsterte Felix.
„Kannst du dir das nicht denken?“
Felix schlug sich mit der gesunden Hand an den Kopf. „Klar, ich hätte es beinahe vergessen. Heute ist ja Vollmond.“
Das hörte auch der Vollmond vor dem Fenster und war ein bisschen beleidigt, dass man ihn fast vergessen hatte.
Jan und Felix schauten auf Hans, aber der machte keine Anstalten, sich zu bewegen, geschweige denn zu sprechen.
„Du musst dich im Bett herumwälzen, sonst wird Hans nicht wach.“
„Das geht nicht mit dem gebrochenen Arm.“
Felix hob den Arm wie zum Beweis, dass er nichts machen konnte.
„Rück mal!“, forderte ihn Jan auf.
Jan legte sich neben Felix ins Bett und wälzte sich herum, so gut es eben ging. Es sah etwas komisch aus, wie die beiden Jungen zusammen im Bett lagen und versuchten, Unruhe zu verbreiten. Doch sie hatten Erfolg.
Hans wachte auf und meckerte herum, fast wie eine Ziege. Er beklagte sich, wie er das immer tat, über seine dünnen Nerven und ob sie ihn umbringen wollten. Wollten Jan und Felix natürlich nicht.
Das Vorspiel dauerte heute zum Glück nicht so lange wie sonst. Man merkte Hans an, dass er von seinem großen Vorfahren erzählen wollte. Sogar das sonst übliche Kraulen durfte heute ausfallen.
Aber er hatte mal wieder vergessen, wo sie das letzte Mal stehen geblieben waren. Sein Gedächtnis schien Löcher wie ein Sieb zu haben. Und das Ende der zuletzt erzählten Geschichte fiel immer wieder hindurch.
„In Europa ist der Löwe angekommen und möchte sich dort ein wenig umschauen. Dann war er neben dem Mauseloch eingeschlafen“, erinnerte ihn Felix.
„Genau, genau, genau“, sagte Hans, als ob es ihm selbst eingefallen wäre. Dann begann er zu erzählen.
   
„Der Löwe hatte mit der Zwergmaus am nächsten Morgen noch einen Tee zusammen getrunken. Und sie hatte ihn, den König, ihrer ganzen Familie vorgestellt. Danach war er aufgebrochen und wanderte nun schon seit einigen Tagen durch den für ihn neuen Kontinent.
Europa hatte ein ganz anderes Gesicht als Afrika, ein viel grüneres und nasseres. Riesige Wälder erstreckten sich von Osten nach Westen und von Süden nach Norden. Die Halme großer Wiesen wogten im Wind und sahen aus wie ein grünes Meer. Es gab, viel Grün zu betrachten. Das der Bäume, der Wiesen, der Laubfrösche und der Büsche. Nach einer Geschichte gab es in Europa sogar eine Insel, die man die grüne Insel nannte, weil alles grün war, sogar die Menschen. Wenn man die Farbe Grün nicht mochte, hatte man in Europa nichts zu suchen, genauso wie man in Afrika ein bisschen Spaß an Sand und Okka haben musste, um sich wohl zu fühlen. Aber dem Löwen gefiel das Grün der Bäume und des Grases, und Überraschung spiegelte sich in seinem Gesicht, wenn er die großen Seen, die vielen Flüsse, Bäche und Teiche sah. Auch sie mochte er.
Doch litt der Löwe unter einem Problem. Und dieses Problem konnte er nicht kennen, bevor er nach Europa gekommen war. Und das ist der einfache Grund: In dem Teil Afrikas, in dem der Löwe wohnte, regnete es viel weniger als hier im Norden. Zwar gab es hie und da ein Wasserloch, aber keine großen Flüsse oder Seen. Die Sonne brannte die meiste Zeit des Jahres auf den Boden und ließ dem Wasser häufig gar keine Chance, weswegen dieses sich aus dem Staub Afrikas machte, um sich in Europa und anderswo wegen dieser Ungerechtigkeit auszuweinen. Nun aber zurück zum Problem. Wenn der Löwe fließendes Wasser hörte, musste er aufs Klo. Immer. Deshalb konnte er nicht in der Nähe eines Baches oder Flusses schlafen, es sei denn, er steckte sich etwas Moos in die Ohren. Selbst starker Regen trieb ihn hinter einen Baum.
„Soviel trinke ich doch gar nicht“, dachte er zu Anfang und schüttelte den Kopf, wenn er mal wieder hinter einem Baum stand und pinkeln musste.
So wanderte der Löwe immer weiter nach Norden, vermied stürzende Bäche und reißende Flüsse und sah Tiere, die er und die ihn noch nie gesehen hatten. Manchmal war es enttäuschend, wenn ihn seine eigenen Untertanen nicht erkannten. Der Löwe musste sich immer erst vorstellen, bis die anderen Tiere merkten, wen sie vor sich hatten. Aber dann schüttelte sie die Freude darüber regelrecht durch, was den Löwen wiederum freute. Doch einmal erkannte ihn jemand.

Hans machte eine Pause. „Habt ihr eine Ahnung, wen er getroffen haben könnte?“
Jan und Felix schüttelten nur den Kopf.
„Das habe ich mir gedacht“, stellte Hans großspurig fest.  

„Der Löwe machte gerade eine Pause, als sich von unten etwas in seinen Bauch bohrte. Zuerst dachte er an einen sehr schnell wachsenden Baum, aber als er aufstand und durch seine Beine auf den Boden schaute, sah er, wie sich die Erde erhob und zum Hügel wurde. Eine Sekunde später lugte der Kopf des Maulwurfs mit den langen Wimpern über den Augen aus der Spitze heraus. Neben diesem Hügel entstand ein weiterer, kleiner, ganz, ganz kleiner Hügel. Auch dort schaute ein Maulwurfköpfchen hinaus. Von oben herab tadelte der große den kleinen Maulwurf: „Das ist doch kein Hügel, das ist ein, das ist ein Tal. So bestehst du keine Prüfung. Mach es noch einmal!“ Das Maulwurfkind verschwand und buddelte weiter. Jetzt erst schaute der Maulwurf nach oben in das Gesicht des Löwen. Auf diese Entfernung konnte er gerade noch ein bisschen sehen.
„Löwe, mein König, bist du das?“, fragte er unsicher, weil er seinen Augen nicht traute.
„Ja, Maulwurf, schön jemanden zu treffen, den man kennt.“ Der Löwe freute sich aufrichtig.
Neben dem Haupthügel bildete sich ein Kinderhügel, aus dem kurze Zeit später ein kleines Maulwurfsgesicht herauslugte: „War das besser, Herr Lehrer?“
„Nein, war es nicht, aber es gibt Wichtigeres. Weißt du, wer das ist?“ Er zeigte mit einer seiner Schaufelhände nach oben. Der Maulwurfschüler blinzelte, weil er noch schlechter sah als sein Lehrer und schüttelte dann seinen Kopf. Maulwürfe sehen bei der Geburt nämlich gar nichts und erst im Alter wird es ein wenig besser.
„Das ist unser König, der König der Tiere.“
Doch der kleine Maulwurf wollte nicht applaudieren. „Toll“ oder Ähnliches sagte er auch nicht. Er blinzelte nur.
„Direkt nach seiner Wahl, in der ersten Nacht nach seiner Wahl haben wir nebeneinander gelegen und uns den Sternenhimmel angeschaut.“ Der Maulwurf zitterte vor Stolz.
„Ach, diese Geschichte!“ Die Stimme des kleinen Maulwurfs klang, als ob er sich die Erlebnisse seines Lehrers mit dem Löwen schon hundert Mal hätte anhören müssen. „Aber der hat ja nicht einmal eine Krone! Sie haben gesagt, er hätte eine.“
Der Maulwurf stotterte, sein Kopf leuchtete wie eine reife Tomate. Der Löwe fühlte sich nackt. Beschämt registrierte er, dass die Tiere, seine Untertanen, anscheinend erzählten, er habe eine Krone. Vielleicht schämten sie sich ihres Königs, weil sie dachten, dass sich das für einen richtigen König gehöre.
„Nein, ich habe keine Krone!“, sagte der Löwe traurig.
Grußlos schlich er mit eingezogenem Schwanz davon.
„Ich habe das mit der Krone so gar nicht gesagt!“, rief der Maulwurf dem Löwen hinterher und versuchte die Situation zu retten. Aber der Löwe hörte schon nichts mehr. Der kleine Maulwurf fiel natürlich durch die Hügelbauprüfung, weil er seinen Lehrer vor dem König so bloß gestellt hatte. So gemein können Lehrer sein.

Der Löwe tat sich selbst leid. Er schlurfte durch das schöne Europa und war ein trauriger König.
„Vielleicht wären besser der Kronenkranich oder der Pfau König geworden, die haben wenigstens von Geburt an eine Krone oder können ein großartiges Rad schlagen. Nur ich, der König, habe keine. Das ist gemein.“
Das wäre bestimmt noch eine ganze Zeit so weitergegangen, wenn der Löwe nicht zuerst ein leises, dann immer lauter werdendes Geräusch hoch über sich vernommen hätte. In einem riesigen V näherte sich ihm ein großer Schwarm Wildgänse. Sie verließen gerade langsam ihre Reiseflughöhe und setzten zur Landung an. Direkt neben dem Löwen.
„Wo wollt ihr denn hin?“, fragte er.
„Nach Afrika, solange die Kontinente noch so nah beieinander sind“, schnatterte die Präsidentengans. „Deshalb beeilen wir uns auch so.“ Die anderen Gänse nickten mit ihren kleinen Köpfen auf ihren langen Hälsen, um deutlich zu machen, wie Recht die Präsidentengans hatte.
„Aber ihr könntet doch einfach über die Ränder hinweg fliegen?!“, stellte der Löwe nüchtern fest.
„Woher weißt du das?“, fragte die dumme Präsidentengans.
„Weil ihr Gänse seid und fliegen könnt. Außerdem komme ich gerade aus Afrika und weiß, dass es kein Problem ist, hinüber zu springen. Dann geht Fliegen erst recht.“
„Du kommst aus Afrika? Nein?!“
„Doch!“
„Echt?
„Ja!“
„Toll!“ Die Gans holte tief Luft, weil sie wirklich überrascht war. „Aber wenn das so ist, müssen wir uns doch gar nicht beeilen!“
„Das ist richtig.“
„Danke!“
„Wofür?“
„Für den Tipp.“
„Gern geschehen.“
Die Gans wackelte ein bisschen mit ihrem Kopf, die anderen machten es ihr nach und schnatterten dabei.
„Wer bist du eigentlich?“
„Mein Name ist Löwe. Ich bin auch dein König.“
„Du bist der Löwe?“
„Ja!“
„Echt?“
„Ja!“
„Toll!“ Die Gans fiel in Ohnmacht. Der König – das war zuviel für sie. Die anderen, die verstanden hatten, wer vor ihnen stand, begannen zu schnattern, dass es einem Angst und Bange werden konnte.
„Du hast sie umgebracht. Und du willst unser König sein? Du bist ein Mörder!“ Das Gekreische der Gänse wurde so laut, dass die dumme Obergans wieder aus ihrer Ohnmacht erwachte. Sie schüttelte ihren kleinen Kopf, der auf dem langen, schmalen Hals saß, als ob sie die Überreste ihrer Ohnmacht hinwegschütteln wollte. Kaum war sie wieder bei Bewusstsein, schnatterte sie wild drauflos: „Los, wir müssen nach Afrika, bevor sich die Kontinente zu weit auseinander bewegt haben!“
Die Führungsgans hatte ein ausgesprochen schlechtes Kurzzeitgedächtnis, die Ohnmacht hatte ihr übriges dazu beigetragen. Sie hatte das Gespräch mit dem Löwen einfach wieder vergessen.
„Wer bist du denn?“, fragte sie den Löwen erneut.
Der Löwe hatte Angst, dass die Gans wieder in Ohnmacht fiele, wenn er seinen richtigen Namen sagen würde, deshalb überlegte er sich schnell einen neuen.
„Ich heiße Wolf und bin gerade auf der Durchreise.“
Wölfe fressen aber Wildgänse, zumindest manchmal. Das ist ein Problem für Wildgänse.
Die Präsidentenwildgans durchfuhr deshalb der Name Wolf wie ein Blitz. „Schnell, wir müssen aufbrechen. Das ist der Wolf. Schnell, wir müssen aufbrechen. Das ist der Wolf“, schnatterte sie drauflos.
„Eben hat er noch gesagt, er sei der Löwe, unser König. Und jetzt will er der Wolf sein. Das ist doch ein Betrüger“, schnatterten die unter den Gänsen, die sich noch erinnern konnten.
„Ich verstehe gar nichts mehr“, sagte eine ganz besonders dumme Gans.
Jetzt ging alles durcheinander: „Er ist der Wolf. Er ist ein Betrüger. Er ist ein böser König.“
Die Wildgänse, die so heißen, weil sie so wild durcheinander schnattern, stoben durcheinander und erhoben sich in Panik.
 „Sind die dumm, die Gänse“, dachte sich der Löwe.  
Tja, als König kann man sich seine Untertanen leider nicht aussuchen.

In den nächsten Tagen seiner Wanderung überfiel den Löwen etwas. Es war aber kein gefährlicher Baum oder ein Jaguar, nein, es war ein Gefühl, das ihn überfiel. Mitten am helllichten Tag. Der Löwe bekam Heimweh.
Zu Anfang war das Gefühl unbedeutend und so klein, dass es der Löwe erst gar nicht bemerkte. Doch dann begann es zu wachsen und an ihm zu nagen, bis der Löwe nicht mehr über das Gefühl hinwegschauen konnte. Er dachte mit Wehmut an seinen Baum, an sein Wasserloch. Selbst wenn er an das Lachen der ollen Hyäne dachte, musste er schmunzeln. So schlimm war es um ihn bestellt.
„Europa habe ich nun gesehen. Es ist ja auch schön, aber um hier für immer zu leben? Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Ich möchte wieder zurück!“, sagte er halblaut zu sich, weil ansonsten auch kein anderer da war, zu dem er es hätte sagen können.
Nachdem er diesen Gedanken gefasst hatte, drehte er sich einfach um hundertachtzig Grad und lief wieder nach Süden zurück, dahin, wo er hergekommen war. Seinen Wunsch, sich alle Erdteile und Tiere anzuschauen, hatte er genau an dem Punkt fallen gelassen, an dem er umgekehrt war.
Der Löwe lief und lief und lief. Und zwischendrin schlief und schlief und schlief er. Seine Vorfreude auf sein Zuhause wuchs mit jedem Schritt.
Doch die kleine Antilope, die immer noch auf einer seiner Schultern saß, versuchte, ihm ein schlechtes Gewissen zu machen: „Jetzt bist du soweit gekommen, hast so viele Tiere gesehen, willst du die anderen nicht auch noch treffen? Sie wollen ebenfalls wissen, wer ihr König ist.“
Die Hyäne mit ihren zwei kleinen Hörnern, die wieder auf die Schulter geklettert war, begrüßte den Entschluss des Löwen, weil sie ihn hervorgerufen hatte. Die ganze Zeit hatte sie gestichelt: „Was machst du hier überhaupt? Die ganze Rumlauferei. Das bist doch nicht du! Du bist faul. Lauf zurück!“
Dieses Mal war die Antilope zu schwach. Sie konnte die Hyäne auch nicht in einem unbeobachteten Moment von der Schulter schubsen. Dieser kleine Teufel passte nämlich mehr denn je höllisch auf, dass ihm nicht das gleiche passierte wie beim letzten Mal.
Die Entscheidung, zurück nach Afrika zu gehen, stand also fest.

Eines Abends traf der Löwe wieder ein alten Bekannten, nämlich den Fuchs, der damals bei der Wahl ebenfalls König hatte werden wollen, der sich dann aber auf die Seite des Löwen geschlagen hatte, um daraus später einen Vorteil zu ziehen. Die Sonne hing in ihrem letzten Licht am Himmel. Die Nacht stand schon bereit, den Tag abzulösen. Die Beiden hatten sich einiges zu erzählen, als dem Löwen eine Idee kam:
„Lieber Fuchs“, flötete er schmeichlerisch, „lieber Fuchs, könntest du nicht, als mein Stellvertreter, nach Asien gehen und den Tieren dort verkünden, dass ich krank sei oder mir eine Verletzung zugezogen habe und deshalb nicht kommen könnte? Eigentlich wollte ich ja selbst dorthin, aber ich muss dringend zurück nach Afrika. Du könntest ihnen vielleicht beschreiben, wie ich aussehe, damit sie wissen, wer ihr König ist.“
Der Löwe schaute den Fuchs eindringlich an, aber der Fuchs merkte nichts, weil es mittlerweile schon so dunkel war.
„Wenn du es wünschst, mein König, würde ich es natürlich machen!“, entgegnete der Fuchs und wenn er Knie gehabt hätte, wäre er auf ihnen vor den Löwen gerutscht.
„Ich gewähre dir auch einen Wunsch!“, sagte der Löwe daraufhin großzügig.
Einen einzigen Wunsch. Da soll man sich mal schnell entscheiden können. Aber der Fuchs überlegte nur kurz, weil er einen Wunsch schon immer hatte. „Ich wäre gerne das schlauste Tier von allen!“
„Sollst du sein!“
„Wirklich?“
„Glaubst du mir etwa nicht?“
„Doch natürlich, Majestät.“
Der Fuchs freute sich diebisch, obwohl er keine unmittelbare Veränderung bemerkte.
„Ab wann bin ich das schlauste Tier?“, fragte er etwas rotzig.
„Ab gleich. So ungefähr in einer halben Stunde. Dann geht’s los. Aber du wirst nichts merken, weil es eine stille Wandlung ist.“
Eine halbe Stunde später passierte nichts, auch nicht leise. Eine Stunde und einen Tag später war der Fuchs immer noch genauso schlau wie zuvor. Der Löwe wollte diesen Wunsch nämlich gar nicht erfüllen, weil der Fuchs sonst vielleicht zu schlau geworden wäre. Er traute dem Rotrock nicht. Aber der Fuchs fühlte sich ab diesem Zeitpunkt sehr, sehr schlau und listig.

Ihre Wege trennten sich wieder. Der Löwe marschierte weiter nach Süden, der Fuchs dahin, wo die Sonne aufgeht. Doch bald verlor er die Lust, den Boten für den Löwen zu spielen. Aber weil er sich einbildete, ein ganz Listiger zu sein, sprach er eine Kuh an, damit sie seine Aufgabe übernehmen würde. Er erklärte ihr die ganze Angelegenheit, während die Kuh eine Ladung Gras von links nach recht und wieder zurück kaute.
„Und ich soll also nach Asien gehen und den Tieren dort erklären, wer unser König ist?“, fragte die Kuh langsam und bedächtig.
„Genau.“
„Was habe ich davon?“, fragte die Kuh und schaute in diesem Moment ganz besonders wie eine Kuh, nämlich mit großen Augen.
„Du erfüllst einen Auftrag des Königs. Das sollte Ehre genug sein.“
Die Kuh willigte ein, der Fuchs kam sich besonders schlau ob seiner Überredungskünste vor. Er blieb da, wo er war und freute sich jeden Tag aufs Neue, wie er die Kuh hinters Licht geführt hatte.
Die Kuh wiederum machte sich auf den Weg in Richtung Asien, und es dauerte sehr lange, bis sie ankam. Erstens sind Rindviecher nicht die Schnellsten und zweitens fand sie ab und an den Weg nicht. Sie erzählte überall die Geschichte vom Löwen, dem König der Tiere, bis sie nach Indien kam. Dort veränderte sie das bis hierher Erzählte und machte sich kurzerhand selbst zum König. Und weil keiner wusste, wie der König aussah, und die Inder damals noch nicht so schlau waren wie heute, glaubten es alle – Tier und Mensch. Aus diesem Grund erklärten die Menschen die Kuh auch zum heiligen Tier, ja man kann sogar sagen zum heiligsten Tier überhaupt. Soll sich noch einer wagen zu sagen, dass Rindviecher blöd sind.
Als der ganze Schwindel ein paar tausend Jahre später aufflog, hatten sich die Inder so an die Kuh gewöhnt, dass sie heiligstes Tier bleiben durfte.

Zurück zum Löwen. Der hatte mittlerweile die Küste erreicht. Doch was musste er da sehen? Die Kontinente schienen, einen Sprung gemacht zu haben. Zwar konnte man die andere Seite noch sehen, aber hinüber zu springen war unmöglich. Dem Löwen trat vor lauter Verzweifelung eine dicke Träne ins Auge und zwar rechts. Er konnte nämlich nicht schwimmen. Musste er jetzt in Europa bleiben, weit weg von Zuhause?
Viele Tiere standen am Ufer und schauten auf die anderen Kontinente. Manchen von ihnen wurde jetzt erst klar, dass sie von nun an für immer in Afrika oder Europa bleiben mussten. Am schlimmsten traf es die Nichtschwimmer, die nicht fliegen konnten oder wollten.
Wie das Stinktier. Es hockte auf der Seite von Amerika und schaute zu den anderen Tieren hinüber, die auf Europa standen.
„Komm doch rüber!“, rief der Dachs. „Du bist doch ein guter Schwimmer.“
„Ich kann nicht ins Wasser, sonst geht die ganze Stinke ab. Ich bin doch ein Stinktier.“
Ja, was sollte man dazu sagen? Ein Stinktier ohne Stinke ist eben kein Stinktier mehr. Und welchen Namen hätte es stattdessen tragen sollen? Das Stinktier wusch sich seit jeher so ungern, dass es sich nie und nimmer ins Wasser gewagt hätte, um auf die andere Seite zu gelangen. Dass es so gut schwimmen konnte, war also vollkommen überflüssig. Mutter Natur hatte bei der Vergabe der Fähigkeiten nicht mitgedacht. So stand und stank das Stinktier mehr zufällig als gewollt auf dem amerikanischen Kontinent und musste wegen seiner Angst vor Sauberkeit und Wohlgeruch dort bleiben. Und in Amerika lebt das Stinktier auch heute noch.
Der Löwe war verzweifelt und zerbrach sich seinen Kopf darüber, wie er nach Afrika zurückkehren könnte. Und nun aufgepasst: er war so verzweifelt, dass er noch nicht einmal einschlief!
Neben ihm saß ein Pavian und kaute auf einem Apfel herum: „Du hast es gut!“, sagte er mit vollem Mund, so dass man ihn kaum verstehen konnte.
„Warum?“, fragte der Löwe etwas verwundert, weil es ihm gerade alles andere als gut ging.
„Du bist der König. Wenn du zurück nach Afrika willst, musst du nur einen Buckelwal anrufen, der dich auf seinem Rücken hinüberschwimmt.“
So etwas hatte der Löwe noch nie gehört. Aber das machte Sinn. Er war der König und der Rücken eines Buckelwals so breit wie eine Terrasse. Darauf konnte man sich bequem setzen, wenn der Wal nicht abtauchte. Weil der Löwe aber nicht so tun wollte, als ob er von dieser bevorzugten Behandlung nichts wisse, sagte er, dass er nur etwas traurig wäre, weil er Europa verlassen müsse.
Wenig später, der Löwe hatte zweimal richtig laut gebrüllt, schwamm gemächlich ein großer Buckelwal vor. Er machte angeberisch eine Fontäne und näherte sich rückwärts dem Ufer, dass der Löwe bequem über die Heckflosse auf den Buckel spazieren konnte. Der Pavian sprang hinterher. Nun thronten der Löwe und der Pavian auf dem Wal und ließen sich hinüber nach Afrika schwimmen. Die Überfahrt dauerte noch keine zwei Minuten. Als der Löwe wieder afrikanischen Boden unter den Tatzen hatte, machte er einen Luftsprung, so freute er sich. Der Pavian bedankte sich für die Mitnahme und verschwand genauso wie der Wal, der einfach abtauchte und nicht mehr zu sehen war.
Die Anstrengungen der letzten Tage und Wochen legten sich nun auf die Schultern des Löwen wie eine bleierne Weste. Die Müdigkeit drückte zuerst seinen Körper zu Boden, dann seinen Kopf und schließlich seine Lider nach unten. Er seufzte noch einmal. Dann fiel er in einen glücklichen Schlaf.

Hans verstummte und schaute Beifall heischend in die Runde.
„Lieber Hans, das hast du toll erzählt“, sagten Felix und Jan wie aus einem Munde, als ob sie es vorher abgesprochen hätten
Hans fühlte sich geschmeichelt. Er legte sich auf den Rücken, streckte seine Stofftierpfoten vom Leib und zeigte mit der rechten Vordertatze auf seinen Bauch.
„Gefällt es dir denn bei uns in Europa?“, fragte Felix ein bisschen ängstlich. „Ich meine, hier ist es doch auch ganz schön, oder?“
Doch Hans hörte schon nichts mehr. Nach ein paar Sekunden Kraulen war er eingeschlafen.
Jan wäre am liebsten bei Felix im Bett liegen geblieben, aber das war sicher keine gute Idee.
So machte er sich auf den Weg. Der Flur im Krankenhaus war verwaist. Der kleine Zeiger der Uhr stand auf der Drei. Jan gelangte ohne Probleme zum Pförtner, der immer noch schlief. Sein Kopf lag allerdings mittlerweile auf der Tischplatte. Er schnarchte. Jan wurde übermütig.
„Entschuldigung!“ Der Pförtner schreckte aus seinem Schlaf hoch. Er schaute in das Gesicht eines Jungen.
„Wussten Sie, warum die Wildgänse Wildgänse heißen?“
Der Pförtner schüttelte nur verständnislos seinen Kopf.
„Weil sie immer so wild durcheinander schnattern. Gute Nacht!“

Jan rannte davon und ließ einen Pförtner zurück, der am nächsten Tag nicht mehr wusste, ob er geträumt hatte oder nicht.